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Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 2. Berlin, 1809.

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Glaubensartikel, und die viel gemißbrauchte, aber
auch von den würdigsten Charakteren verherr-
lichte, Geistlichkeit war das unentbehrlichste Bin-
dungsmittel für die einzelnen Generationen des
Mittelalters, eben so für einzelne neben einan-
der wohnende Europäische Völkerschaften. In
dieser erhabenen Eigenschaft, die ich insbeson-
dre ihre staatsrechtliche und völkerrechtliche nann-
te, wurde sie von den Reformatoren vorzüglich
verdammt; und diese Ansicht war es, welche der
Reformation unzählige Freunde unter den Re-
gierenden und in den Handelsstädten verschaffte.

Wenn wir nehmlich den politischen Zustand
von Europa im vierzehnten und funfzehnten
Jahrhundert betrachten, so scheint es, als haben
sich die drei großen Elemente des modernen Rech-
tes, das geistliche Recht, welches auf dem cor-
porativen Eigenthum, das Lehnsrecht, welches
auf dem Familieneigenthum, und das bürgerli-
che, städtische Recht, welches auf dem Europäi-
schen Privateigenthum beruhete, jedes abgeson-
dert auf einem eigenthümlichen Boden entwickelt:
wir finden besonders in Deutschland und Ita-
lien geistliche, adelige und bürgerliche Staaten
in großer Anzahl neben einander. Nur in Frank-
reich, und besonders in England, treten diese
drei Elemente in eigne Verbindung: in Eng-

Glaubensartikel, und die viel gemißbrauchte, aber
auch von den wuͤrdigſten Charakteren verherr-
lichte, Geiſtlichkeit war das unentbehrlichſte Bin-
dungsmittel fuͤr die einzelnen Generationen des
Mittelalters, eben ſo fuͤr einzelne neben einan-
der wohnende Europaͤiſche Voͤlkerſchaften. In
dieſer erhabenen Eigenſchaft, die ich insbeſon-
dre ihre ſtaatsrechtliche und voͤlkerrechtliche nann-
te, wurde ſie von den Reformatoren vorzuͤglich
verdammt; und dieſe Anſicht war es, welche der
Reformation unzaͤhlige Freunde unter den Re-
gierenden und in den Handelsſtaͤdten verſchaffte.

Wenn wir nehmlich den politiſchen Zuſtand
von Europa im vierzehnten und funfzehnten
Jahrhundert betrachten, ſo ſcheint es, als haben
ſich die drei großen Elemente des modernen Rech-
tes, das geiſtliche Recht, welches auf dem cor-
porativen Eigenthum, das Lehnsrecht, welches
auf dem Familieneigenthum, und das buͤrgerli-
che, ſtaͤdtiſche Recht, welches auf dem Europaͤi-
ſchen Privateigenthum beruhete, jedes abgeſon-
dert auf einem eigenthuͤmlichen Boden entwickelt:
wir finden beſonders in Deutſchland und Ita-
lien geiſtliche, adelige und buͤrgerliche Staaten
in großer Anzahl neben einander. Nur in Frank-
reich, und beſonders in England, treten dieſe
drei Elemente in eigne Verbindung: in Eng-

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[116/0124] Glaubensartikel, und die viel gemißbrauchte, aber auch von den wuͤrdigſten Charakteren verherr- lichte, Geiſtlichkeit war das unentbehrlichſte Bin- dungsmittel fuͤr die einzelnen Generationen des Mittelalters, eben ſo fuͤr einzelne neben einan- der wohnende Europaͤiſche Voͤlkerſchaften. In dieſer erhabenen Eigenſchaft, die ich insbeſon- dre ihre ſtaatsrechtliche und voͤlkerrechtliche nann- te, wurde ſie von den Reformatoren vorzuͤglich verdammt; und dieſe Anſicht war es, welche der Reformation unzaͤhlige Freunde unter den Re- gierenden und in den Handelsſtaͤdten verſchaffte. Wenn wir nehmlich den politiſchen Zuſtand von Europa im vierzehnten und funfzehnten Jahrhundert betrachten, ſo ſcheint es, als haben ſich die drei großen Elemente des modernen Rech- tes, das geiſtliche Recht, welches auf dem cor- porativen Eigenthum, das Lehnsrecht, welches auf dem Familieneigenthum, und das buͤrgerli- che, ſtaͤdtiſche Recht, welches auf dem Europaͤi- ſchen Privateigenthum beruhete, jedes abgeſon- dert auf einem eigenthuͤmlichen Boden entwickelt: wir finden beſonders in Deutſchland und Ita- lien geiſtliche, adelige und buͤrgerliche Staaten in großer Anzahl neben einander. Nur in Frank- reich, und beſonders in England, treten dieſe drei Elemente in eigne Verbindung: in Eng-

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Zitationshilfe: Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 2. Berlin, 1809, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_staatskunst02_1809/124>, abgerufen am 20.04.2024.