Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Müller, Karl Otfried: Handbuch der Archäologie der Kunst. Breslau, 1830.

Bild:
<< vorherige Seite

Einleitung
meßbaren Größe. Und zwar ist die Bewegung um so
mehr als reine Zeitgröße zu betrachten, je weniger es
dabei auf das Räumliche, den sich bewegenden Körper,
3die Linie der Bewegung, ankömmt. Die reinste Darstel-
lung einer Zeitgröße für den äußern Sinn ist der mu-
sikalische Ton
, welcher als solcher ganz und gar auf
dem Maß der Geschwindigkeit der regelmäßigen Schwin-
gungen des tönenden Körpers beruht. Die Musik ist es,
welche die Folge und Verbindung dieser schnellern oder lang-
samern Schwingungen zum Ausdruck von Kunstideen macht.

3. Musice est exercitium arithmeticae occultum nesci-
entis se numerare animi,
Leibniz. Kant S. 217. sagt zu
wenig, indem er behauptet, daß die Mathematik blos die conditio
sine qua non
des musikalischen Eindrucks sei, aber "an den Rei-
zen und Gemüthsbewegungen, welche die Musik hervorbringt, nicht
den mindesten Antheil habe". Zum musikalischen Ton, der für
sich allein nicht erscheinen kann, kömmt in der Ausführung noth-
wendig der Laut hinzu, welcher nicht quantitativer, meßbarer Art,
sondern wirklich qualitativ ist, und dem äußern Stoff in der Pla-
stik entspricht.

119. Die Kunstform des Tons, welcher eine ver-
hüllte Zeitgröße
genannt werden kann, indem der
eigentlich nur quantitative Unterschied unserm Sinne als
qualitativ erscheint, wird von einer andern umfaßt, in
welcher das Quantitative, das Messen einer Zeitgröße,
für den aufnehmenden Sinn deutlich hervortritt, in wel-
2cher man mit Bewußtsein mißt. Die Kunst, welche durch
den Wechsel in diesen Maaßen ihre Ideen ausdrückt, ist
die Rhythmik, welche als Kunst nie für sich allein
auftreten, aber sich mit allen durch die Bewegung dar-
stellenden verbinden kann.

2. Die Rhythmik mißt Töne, und Bewegungen von Körpern.
Ueberdies findet der Begriff des Rhythmus auch in den räumlich
darstellenden Künsten seine Anwendung, und bedeutet hier ein
leichtfaßliches Verhältniß der Größen als solcher. Die Rhythmik

Einleitung
meßbaren Groͤße. Und zwar iſt die Bewegung um ſo
mehr als reine Zeitgroͤße zu betrachten, je weniger es
dabei auf das Raͤumliche, den ſich bewegenden Koͤrper,
3die Linie der Bewegung, ankoͤmmt. Die reinſte Darſtel-
lung einer Zeitgroͤße fuͤr den aͤußern Sinn iſt der mu-
ſikaliſche Ton
, welcher als ſolcher ganz und gar auf
dem Maß der Geſchwindigkeit der regelmaͤßigen Schwin-
gungen des toͤnenden Koͤrpers beruht. Die Muſik iſt es,
welche die Folge und Verbindung dieſer ſchnellern oder lang-
ſamern Schwingungen zum Ausdruck von Kunſtideen macht.

3. Musice est exercitium arithmeticae occultum nesci-
entis se numerare animi,
Leibniz. Kant S. 217. ſagt zu
wenig, indem er behauptet, daß die Mathematik blos die conditio
sine qua non
des muſikaliſchen Eindrucks ſei, aber „an den Rei-
zen und Gemüthsbewegungen, welche die Muſik hervorbringt, nicht
den mindeſten Antheil habe“. Zum muſikaliſchen Ton, der für
ſich allein nicht erſcheinen kann, kömmt in der Ausführung noth-
wendig der Laut hinzu, welcher nicht quantitativer, meßbarer Art,
ſondern wirklich qualitativ iſt, und dem äußern Stoff in der Pla-
ſtik entſpricht.

119. Die Kunſtform des Tons, welcher eine ver-
huͤllte Zeitgroͤße
genannt werden kann, indem der
eigentlich nur quantitative Unterſchied unſerm Sinne als
qualitativ erſcheint, wird von einer andern umfaßt, in
welcher das Quantitative, das Meſſen einer Zeitgroͤße,
fuͤr den aufnehmenden Sinn deutlich hervortritt, in wel-
2cher man mit Bewußtſein mißt. Die Kunſt, welche durch
den Wechſel in dieſen Maaßen ihre Ideen ausdruͤckt, iſt
die Rhythmik, welche als Kunſt nie fuͤr ſich allein
auftreten, aber ſich mit allen durch die Bewegung dar-
ſtellenden verbinden kann.

2. Die Rhythmik mißt Töne, und Bewegungen von Körpern.
Ueberdies findet der Begriff des Rhythmus auch in den räumlich
darſtellenden Künſten ſeine Anwendung, und bedeutet hier ein
leichtfaßliches Verhältniß der Größen als ſolcher. Die Rhythmik

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0030" n="8"/><fw place="top" type="header">Einleitung</fw><lb/>
meßbaren Gro&#x0364;ße. Und zwar i&#x017F;t die Bewegung um &#x017F;o<lb/>
mehr als reine Zeitgro&#x0364;ße zu betrachten, je weniger es<lb/>
dabei auf das Ra&#x0364;umliche, den &#x017F;ich bewegenden Ko&#x0364;rper,<lb/><note place="left">3</note>die Linie der Bewegung, anko&#x0364;mmt. Die rein&#x017F;te Dar&#x017F;tel-<lb/>
lung einer Zeitgro&#x0364;ße fu&#x0364;r den a&#x0364;ußern Sinn i&#x017F;t der <hi rendition="#g">mu-<lb/>
&#x017F;ikali&#x017F;che Ton</hi>, welcher als &#x017F;olcher ganz und gar auf<lb/>
dem Maß der Ge&#x017F;chwindigkeit der regelma&#x0364;ßigen Schwin-<lb/>
gungen des to&#x0364;nenden Ko&#x0364;rpers beruht. Die <hi rendition="#g">Mu&#x017F;ik</hi> i&#x017F;t es,<lb/>
welche die Folge und Verbindung die&#x017F;er &#x017F;chnellern oder lang-<lb/>
&#x017F;amern Schwingungen zum Ausdruck von Kun&#x017F;tideen macht.</p><lb/>
            <p>3. <hi rendition="#aq">Musice est exercitium arithmeticae occultum nesci-<lb/>
entis se numerare animi,</hi> Leibniz. Kant S. 217. &#x017F;agt zu<lb/>
wenig, indem er behauptet, daß die Mathematik blos die <hi rendition="#aq">conditio<lb/>
sine qua non</hi> des mu&#x017F;ikali&#x017F;chen Eindrucks &#x017F;ei, aber &#x201E;an den Rei-<lb/>
zen und Gemüthsbewegungen, welche die Mu&#x017F;ik hervorbringt, nicht<lb/>
den minde&#x017F;ten Antheil habe&#x201C;. Zum mu&#x017F;ikali&#x017F;chen Ton, der für<lb/>
&#x017F;ich allein nicht er&#x017F;cheinen kann, kömmt in der Ausführung noth-<lb/>
wendig der <hi rendition="#g">Laut</hi> hinzu, welcher nicht quantitativer, meßbarer Art,<lb/>
&#x017F;ondern wirklich qualitativ i&#x017F;t, und dem äußern Stoff in der Pla-<lb/>
&#x017F;tik ent&#x017F;pricht.</p><lb/>
            <p><note place="left">1</note>19. Die Kun&#x017F;tform des Tons, welcher eine <hi rendition="#g">ver-<lb/>
hu&#x0364;llte Zeitgro&#x0364;ße</hi> genannt werden kann, indem der<lb/>
eigentlich nur quantitative Unter&#x017F;chied un&#x017F;erm Sinne als<lb/>
qualitativ er&#x017F;cheint, wird von einer andern umfaßt, in<lb/>
welcher das Quantitative, das Me&#x017F;&#x017F;en einer Zeitgro&#x0364;ße,<lb/>
fu&#x0364;r den aufnehmenden Sinn deutlich hervortritt, in wel-<lb/><note place="left">2</note>cher man mit Bewußt&#x017F;ein mißt. Die Kun&#x017F;t, welche durch<lb/>
den Wech&#x017F;el in die&#x017F;en Maaßen ihre Ideen ausdru&#x0364;ckt, i&#x017F;t<lb/>
die <hi rendition="#g">Rhythmik</hi>, welche als Kun&#x017F;t nie fu&#x0364;r &#x017F;ich allein<lb/>
auftreten, aber &#x017F;ich mit allen durch die Bewegung dar-<lb/>
&#x017F;tellenden verbinden kann.</p><lb/>
            <p>2. Die Rhythmik mißt Töne, und Bewegungen von Körpern.<lb/>
Ueberdies findet der Begriff des Rhythmus auch in den räumlich<lb/>
dar&#x017F;tellenden Kün&#x017F;ten &#x017F;eine Anwendung, und bedeutet hier ein<lb/>
leichtfaßliches Verhältniß der Größen als &#x017F;olcher. Die Rhythmik<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[8/0030] Einleitung meßbaren Groͤße. Und zwar iſt die Bewegung um ſo mehr als reine Zeitgroͤße zu betrachten, je weniger es dabei auf das Raͤumliche, den ſich bewegenden Koͤrper, die Linie der Bewegung, ankoͤmmt. Die reinſte Darſtel- lung einer Zeitgroͤße fuͤr den aͤußern Sinn iſt der mu- ſikaliſche Ton, welcher als ſolcher ganz und gar auf dem Maß der Geſchwindigkeit der regelmaͤßigen Schwin- gungen des toͤnenden Koͤrpers beruht. Die Muſik iſt es, welche die Folge und Verbindung dieſer ſchnellern oder lang- ſamern Schwingungen zum Ausdruck von Kunſtideen macht. 3 3. Musice est exercitium arithmeticae occultum nesci- entis se numerare animi, Leibniz. Kant S. 217. ſagt zu wenig, indem er behauptet, daß die Mathematik blos die conditio sine qua non des muſikaliſchen Eindrucks ſei, aber „an den Rei- zen und Gemüthsbewegungen, welche die Muſik hervorbringt, nicht den mindeſten Antheil habe“. Zum muſikaliſchen Ton, der für ſich allein nicht erſcheinen kann, kömmt in der Ausführung noth- wendig der Laut hinzu, welcher nicht quantitativer, meßbarer Art, ſondern wirklich qualitativ iſt, und dem äußern Stoff in der Pla- ſtik entſpricht. 19. Die Kunſtform des Tons, welcher eine ver- huͤllte Zeitgroͤße genannt werden kann, indem der eigentlich nur quantitative Unterſchied unſerm Sinne als qualitativ erſcheint, wird von einer andern umfaßt, in welcher das Quantitative, das Meſſen einer Zeitgroͤße, fuͤr den aufnehmenden Sinn deutlich hervortritt, in wel- cher man mit Bewußtſein mißt. Die Kunſt, welche durch den Wechſel in dieſen Maaßen ihre Ideen ausdruͤckt, iſt die Rhythmik, welche als Kunſt nie fuͤr ſich allein auftreten, aber ſich mit allen durch die Bewegung dar- ſtellenden verbinden kann. 1 2 2. Die Rhythmik mißt Töne, und Bewegungen von Körpern. Ueberdies findet der Begriff des Rhythmus auch in den räumlich darſtellenden Künſten ſeine Anwendung, und bedeutet hier ein leichtfaßliches Verhältniß der Größen als ſolcher. Die Rhythmik

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_kunst_1830
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_kunst_1830/30
Zitationshilfe: Müller, Karl Otfried: Handbuch der Archäologie der Kunst. Breslau, 1830, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_kunst_1830/30>, abgerufen am 20.04.2024.