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Müller, Karl Otfried: Handbuch der Archäologie der Kunst. Breslau, 1830.

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Einleitung

3. Der geistige Inhalt einer Reihe von Tönen, der Ausdruck
eines Gesichts wird nicht erlernt, obgleich von dem Einen stärker
und feiner empfunden als vom Andern. Ein Olympischer Zeus
würde in der Hauptsache auch von uns verstanden und empfunden
werden.

13. Zugleich ist dieser Zusammenhang in der Kunst
ein so unmittelbarer und inniger, daß das Innre
in dem Aeußern ganz aufgeht, und sich selbst erst im
Geiste durch die Darstellung vollständig entwickelt. --
2Daher die Kunstthätigkeit gleich von Anfang in der Seele
auf das äußere Darstellen gerichtet ist, und die Kunst
überall als ein Machen, Schaffen (Kunst, tekhne) an-
gesehen wird.

1. Die Kunstdarstellung ist nach Kant Kritik der Urtheilskraft
S. 251. eine eigentliche Darstellung, upotuposis, ex-
hibitio,
kein Charakterismus, wie die Sprache, welche nur
Mittel zur Reproduction der Begriffe ist, nicht die Begriffe unmit-
telbar darstellt. Der Künstler lernt seine Idee selbst erst durch das
Kunstwerk kennen.

2. Tekhne von teukho, Kunst von können.


14. Das Aeußere oder Darstellende in der Kunst ist
2eine sinnliche Form. Entweder kann nun die sinnliche
Form, welche ein inneres Leben auszusprechen vermag,
durch die Phantasie geschaffen werden oder auch dem
3äußern Sinn entgegentreten. Da aber schon das gemeine
Sehen, noch vielmehr aber jedes künstlerische, zugleich eine
Thätigkeit der Phantasie ist: so muß die Formenbildende
Phantasie überhaupt als das Haupt-Vermögen
der Kunstdarstellung bezeichnet werden.

3. "Der Maler malt eigentlich mit dem Auge; seine Kunst
ist die Kunst regelmäßig und schön zu sehen. Sehen ist hier ganz
aktiv, durchaus bildende Thätigkeit" Novalis ii. S. 127. -- Der
Unterschied der nachahmenden und der freischaffenden
Kunst ist daher nicht so scharf als es scheinen kann.

Einleitung

3. Der geiſtige Inhalt einer Reihe von Tönen, der Ausdruck
eines Geſichts wird nicht erlernt, obgleich von dem Einen ſtärker
und feiner empfunden als vom Andern. Ein Olympiſcher Zeus
würde in der Hauptſache auch von uns verſtanden und empfunden
werden.

13. Zugleich iſt dieſer Zuſammenhang in der Kunſt
ein ſo unmittelbarer und inniger, daß das Innre
in dem Aeußern ganz aufgeht, und ſich ſelbſt erſt im
Geiſte durch die Darſtellung vollſtaͤndig entwickelt. —
2Daher die Kunſtthaͤtigkeit gleich von Anfang in der Seele
auf das aͤußere Darſtellen gerichtet iſt, und die Kunſt
uͤberall als ein Machen, Schaffen (Kunſt, τέχνη) an-
geſehen wird.

1. Die Kunſtdarſtellung iſt nach Kant Kritik der Urtheilskraft
S. 251. eine eigentliche Darſtellung, ὑποτύπωσις, ex-
hibitio,
kein Charakterismus, wie die Sprache, welche nur
Mittel zur Reproduction der Begriffe iſt, nicht die Begriffe unmit-
telbar darſtellt. Der Künſtler lernt ſeine Idee ſelbſt erſt durch das
Kunſtwerk kennen.

2. Τέχνη von τεύχω, Kunſt von können.


14. Das Aeußere oder Darſtellende in der Kunſt iſt
2eine ſinnliche Form. Entweder kann nun die ſinnliche
Form, welche ein inneres Leben auszuſprechen vermag,
durch die Phantaſie geſchaffen werden oder auch dem
3aͤußern Sinn entgegentreten. Da aber ſchon das gemeine
Sehen, noch vielmehr aber jedes kuͤnſtleriſche, zugleich eine
Thaͤtigkeit der Phantaſie iſt: ſo muß die Formenbildende
Phantaſie uͤberhaupt als das Haupt-Vermoͤgen
der Kunſtdarſtellung bezeichnet werden.

3. „Der Maler malt eigentlich mit dem Auge; ſeine Kunſt
iſt die Kunſt regelmäßig und ſchön zu ſehen. Sehen iſt hier ganz
aktiv, durchaus bildende Thätigkeit“ Novalis ii. S. 127. — Der
Unterſchied der nachahmenden und der freiſchaffenden
Kunſt iſt daher nicht ſo ſcharf als es ſcheinen kann.

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[2/0024] Einleitung 3. Der geiſtige Inhalt einer Reihe von Tönen, der Ausdruck eines Geſichts wird nicht erlernt, obgleich von dem Einen ſtärker und feiner empfunden als vom Andern. Ein Olympiſcher Zeus würde in der Hauptſache auch von uns verſtanden und empfunden werden. 3. Zugleich iſt dieſer Zuſammenhang in der Kunſt ein ſo unmittelbarer und inniger, daß das Innre in dem Aeußern ganz aufgeht, und ſich ſelbſt erſt im Geiſte durch die Darſtellung vollſtaͤndig entwickelt. — Daher die Kunſtthaͤtigkeit gleich von Anfang in der Seele auf das aͤußere Darſtellen gerichtet iſt, und die Kunſt uͤberall als ein Machen, Schaffen (Kunſt, τέχνη) an- geſehen wird. 1 2 1. Die Kunſtdarſtellung iſt nach Kant Kritik der Urtheilskraft S. 251. eine eigentliche Darſtellung, ὑποτύπωσις, ex- hibitio, kein Charakterismus, wie die Sprache, welche nur Mittel zur Reproduction der Begriffe iſt, nicht die Begriffe unmit- telbar darſtellt. Der Künſtler lernt ſeine Idee ſelbſt erſt durch das Kunſtwerk kennen. 2. Τέχνη von τεύχω, Kunſt von können. 4. Das Aeußere oder Darſtellende in der Kunſt iſt eine ſinnliche Form. Entweder kann nun die ſinnliche Form, welche ein inneres Leben auszuſprechen vermag, durch die Phantaſie geſchaffen werden oder auch dem aͤußern Sinn entgegentreten. Da aber ſchon das gemeine Sehen, noch vielmehr aber jedes kuͤnſtleriſche, zugleich eine Thaͤtigkeit der Phantaſie iſt: ſo muß die Formenbildende Phantaſie uͤberhaupt als das Haupt-Vermoͤgen der Kunſtdarſtellung bezeichnet werden. 1 2 3 3. „Der Maler malt eigentlich mit dem Auge; ſeine Kunſt iſt die Kunſt regelmäßig und ſchön zu ſehen. Sehen iſt hier ganz aktiv, durchaus bildende Thätigkeit“ Novalis ii. S. 127. — Der Unterſchied der nachahmenden und der freiſchaffenden Kunſt iſt daher nicht ſo ſcharf als es ſcheinen kann.

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Zitationshilfe: Müller, Karl Otfried: Handbuch der Archäologie der Kunst. Breslau, 1830, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_kunst_1830/24>, abgerufen am 28.03.2024.