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Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 2. Breslau, 1824.

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die Dorischen Gesetze der strengen Mäßigkeit die Knechte
nicht banden, ist gewiß 1, und so konnten Beispiele
der Trunkenheit unter ihnen zur Empfehlung der Nüch-
ternheit dienen. Auch war es in der Ordnung, daß
die Spartiatischen Nationallieder und Nationaltänze
den Heloten untersagt waren 2, dagegen hatten sie
eigene mehr ausgelassene und possenhafte, welche zu
jener Erzählung Veranlassung gaben 3. Man muß
dabei immer bedenken, daß die meisten Fremden, wel-
che Sparta besuchten und über dessen Einrichtungen
Nachricht gaben, Einzelnes, was sie flüchtig gesehn,
aufgriffen und, ohne den Zusammenhang zu kennen,
nach falschen Voraussetzungen combinirten.

4.

Aber mühen wir uns nicht umsonst, den schlim-
men Eindruck der Darstellung Myrons zu mindern, da
das einzige fürchterliche Wort "Kryptie" das un-
glückliche Schicksal der Heloten und die Grausamkeit
ihrer Herren genugsam bezeichnet? Man versteht dar-
unter eine jährlich zu bestimmter Zeit von der Jugend
Sparta's angestellte Jagd der Heloten, welche bei
Nacht meuchelmörderisch angefallen oder auch bei Tage
förmlich gehetzt werden, um ihre Anzahl zu vermin-
dern und ihre Kraft zu schwächen 4. Von ihr spricht
Isokrates sehr verwirrt und nach bleßem Gerücht 5;
aber Aristoteles, wie Heraklides vom Pontos 6, legen
sie geradezu dem Lykurg bei, und stellen sie als einen
Krieg vor, welchen die Ephoren selbst bei dem Antritt
ihres jährlichen Amtes den Heloten ankündigen. Also

1 Theopomp bei Athen. 14, 657 c.
2 Plut. a. O.
3 mothon phortikon orkhema Pollux 4, 14, 101.
4 Plutarch
c. 28. Vgl. Numas 1. Ueber die Kryptie Manso 1, 2. S. 141.
Heyne in den Commentat. Gotting. T. 9. p. 30.
5 Pana-
then. 73. vgl. oben S. 25, 2.
6 bei Plut. Lyk. 28. Heraklid.
Polit. 2.

die Doriſchen Geſetze der ſtrengen Maͤßigkeit die Knechte
nicht banden, iſt gewiß 1, und ſo konnten Beiſpiele
der Trunkenheit unter ihnen zur Empfehlung der Nuͤch-
ternheit dienen. Auch war es in der Ordnung, daß
die Spartiatiſchen Nationallieder und Nationaltaͤnze
den Heloten unterſagt waren 2, dagegen hatten ſie
eigene mehr ausgelaſſene und poſſenhafte, welche zu
jener Erzaͤhlung Veranlaſſung gaben 3. Man muß
dabei immer bedenken, daß die meiſten Fremden, wel-
che Sparta beſuchten und uͤber deſſen Einrichtungen
Nachricht gaben, Einzelnes, was ſie fluͤchtig geſehn,
aufgriffen und, ohne den Zuſammenhang zu kennen,
nach falſchen Vorausſetzungen combinirten.

4.

Aber muͤhen wir uns nicht umſonſt, den ſchlim-
men Eindruck der Darſtellung Myrons zu mindern, da
das einzige fuͤrchterliche Wort “Kryptie” das un-
gluͤckliche Schickſal der Heloten und die Grauſamkeit
ihrer Herren genugſam bezeichnet? Man verſteht dar-
unter eine jaͤhrlich zu beſtimmter Zeit von der Jugend
Sparta’s angeſtellte Jagd der Heloten, welche bei
Nacht meuchelmoͤrderiſch angefallen oder auch bei Tage
foͤrmlich gehetzt werden, um ihre Anzahl zu vermin-
dern und ihre Kraft zu ſchwaͤchen 4. Von ihr ſpricht
Iſokrates ſehr verwirrt und nach bleßem Geruͤcht 5;
aber Ariſtoteles, wie Heraklides vom Pontos 6, legen
ſie geradezu dem Lykurg bei, und ſtellen ſie als einen
Krieg vor, welchen die Ephoren ſelbſt bei dem Antritt
ihres jaͤhrlichen Amtes den Heloten ankuͤndigen. Alſo

1 Theopomp bei Athen. 14, 657 c.
2 Plut. a. O.
3 μόθων φοϱτικὸν ὄϱχημα Pollux 4, 14, 101.
4 Plutarch
c. 28. Vgl. Numas 1. Ueber die Kryptie Manſo 1, 2. S. 141.
Heyne in den Commentat. Gotting. T. 9. p. 30.
5 Pana-
then. 73. vgl. oben S. 25, 2.
6 bei Plut. Lyk. 28. Heraklid.
Polit. 2.
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[42/0048] die Doriſchen Geſetze der ſtrengen Maͤßigkeit die Knechte nicht banden, iſt gewiß 1, und ſo konnten Beiſpiele der Trunkenheit unter ihnen zur Empfehlung der Nuͤch- ternheit dienen. Auch war es in der Ordnung, daß die Spartiatiſchen Nationallieder und Nationaltaͤnze den Heloten unterſagt waren 2, dagegen hatten ſie eigene mehr ausgelaſſene und poſſenhafte, welche zu jener Erzaͤhlung Veranlaſſung gaben 3. Man muß dabei immer bedenken, daß die meiſten Fremden, wel- che Sparta beſuchten und uͤber deſſen Einrichtungen Nachricht gaben, Einzelnes, was ſie fluͤchtig geſehn, aufgriffen und, ohne den Zuſammenhang zu kennen, nach falſchen Vorausſetzungen combinirten. 4. Aber muͤhen wir uns nicht umſonſt, den ſchlim- men Eindruck der Darſtellung Myrons zu mindern, da das einzige fuͤrchterliche Wort “Kryptie” das un- gluͤckliche Schickſal der Heloten und die Grauſamkeit ihrer Herren genugſam bezeichnet? Man verſteht dar- unter eine jaͤhrlich zu beſtimmter Zeit von der Jugend Sparta’s angeſtellte Jagd der Heloten, welche bei Nacht meuchelmoͤrderiſch angefallen oder auch bei Tage foͤrmlich gehetzt werden, um ihre Anzahl zu vermin- dern und ihre Kraft zu ſchwaͤchen 4. Von ihr ſpricht Iſokrates ſehr verwirrt und nach bleßem Geruͤcht 5; aber Ariſtoteles, wie Heraklides vom Pontos 6, legen ſie geradezu dem Lykurg bei, und ſtellen ſie als einen Krieg vor, welchen die Ephoren ſelbſt bei dem Antritt ihres jaͤhrlichen Amtes den Heloten ankuͤndigen. Alſo 1 Theopomp bei Athen. 14, 657 c. 2 Plut. a. O. 3 μόθων φοϱτικὸν ὄϱχημα Pollux 4, 14, 101. 4 Plutarch c. 28. Vgl. Numas 1. Ueber die Kryptie Manſo 1, 2. S. 141. Heyne in den Commentat. Gotting. T. 9. p. 30. 5 Pana- then. 73. vgl. oben S. 25, 2. 6 bei Plut. Lyk. 28. Heraklid. Polit. 2.

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Zitationshilfe: Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 2. Breslau, 1824, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische03_1824/48>, abgerufen am 28.03.2024.