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Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 2. Breslau, 1824.

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3.

Aber bei allem Unterschiede der Stämme, aus
denen das Griechische Volk bestand, gab es doch in der
Entwickelungsgeschichte der Griechischen Verfassungen
einen gemeinsamen Gang, der auch auf solche, wel-
che frühere Momente mit Anhänglichkeit zum Alten fest-
hielten, einen gewissen Einfluß äußerte. Indem wir hier
versuchen wollen, diesen Gang im Allgemeinen nachzu-
weisen, beginnen wir bei der durch Homer so anschau-
lich dargestellten Verfassung heroischer Zeit. Diese
können wir kaum anders als Aristokratie nennen, weil
darin für das Staatsleben nichts bedeutender ist, als
die genaue Trennung der Edeln (aristoi, aristeis,
anaktes, basileis, epikrateontes, katakoiraneontes)
und des Volks. Aus jenen werden die Rathsversamm-
lungen und die Gerichte besetzt 1, und wenn mit bei-
den eine Gemeindeversammlung (agora) verbunden zu
sein pflegt, so treten doch darin nur stets Edle als
vorschlagend, berathend, stimmengebend auf, und das
versammelte Volk ist nur da, um zu hören und seine
Stimmung etwa im Ganzen zu äußern, auf welche
Aeußerungen alsdann Fürsten von milder Gesinnung
achten mögen 2. Der Herrscher selbst ist eigentlich von
gleichem Stande mit den übrigen Edlen, und nur durch
die ihm verliehene Auktorität, Ansehn im Rathe und

1 S. über die Geronten unten K. 6.
2 Besonders
muß man auf die Versammlung Odyss. 2. achten, wo indeß Men-
tor V. 239. eine eigentlich nicht verfassungsmäßige Erklärung des
Volkes veranlassen will. Daß die Homer. Agora aber für sich
Regierungsrechte ausübe, kann ich Platnern de notione juris ap.
Hom. p.
108. und Tittmann Griech. Staatsverf. S. 63. nicht zu-
geben. Sondern sie ist eine Art Wittenagemote, wo nur die Thane
Stimmrecht haben, wie bei den Sachsen in England. Das Volk
darin bildet eine concio, aber keine comitia. Mehr kann ich mit
Wachsmuth Jus gent. ap. Graecos p. 18 sq. hierin überein-
stimmen.
3.

Aber bei allem Unterſchiede der Staͤmme, aus
denen das Griechiſche Volk beſtand, gab es doch in der
Entwickelungsgeſchichte der Griechiſchen Verfaſſungen
einen gemeinſamen Gang, der auch auf ſolche, wel-
che fruͤhere Momente mit Anhaͤnglichkeit zum Alten feſt-
hielten, einen gewiſſen Einfluß aͤußerte. Indem wir hier
verſuchen wollen, dieſen Gang im Allgemeinen nachzu-
weiſen, beginnen wir bei der durch Homer ſo anſchau-
lich dargeſtellten Verfaſſung heroiſcher Zeit. Dieſe
koͤnnen wir kaum anders als Ariſtokratie nennen, weil
darin fuͤr das Staatsleben nichts bedeutender iſt, als
die genaue Trennung der Edeln (ἂϱιστοι, ἀριστεῖς,
ἂνακτες, βασιλεῖς, ἐπικρατέοντες, κατακοιϱανέοντες)
und des Volks. Aus jenen werden die Rathsverſamm-
lungen und die Gerichte beſetzt 1, und wenn mit bei-
den eine Gemeindeverſammlung (ἀγορὰ) verbunden zu
ſein pflegt, ſo treten doch darin nur ſtets Edle als
vorſchlagend, berathend, ſtimmengebend auf, und das
verſammelte Volk iſt nur da, um zu hoͤren und ſeine
Stimmung etwa im Ganzen zu aͤußern, auf welche
Aeußerungen alsdann Fuͤrſten von milder Geſinnung
achten moͤgen 2. Der Herrſcher ſelbſt iſt eigentlich von
gleichem Stande mit den uͤbrigen Edlen, und nur durch
die ihm verliehene Auktoritaͤt, Anſehn im Rathe und

1 S. uͤber die Geronten unten K. 6.
2 Beſonders
muß man auf die Verſammlung Odyſſ. 2. achten, wo indeß Men-
tor V. 239. eine eigentlich nicht verfaſſungsmaͤßige Erklaͤrung des
Volkes veranlaſſen will. Daß die Homer. Ἀγοϱὰ aber fuͤr ſich
Regierungsrechte ausuͤbe, kann ich Platnern de notione juris ap.
Hom. p.
108. und Tittmann Griech. Staatsverf. S. 63. nicht zu-
geben. Sondern ſie iſt eine Art Wittenagemote, wo nur die Thane
Stimmrecht haben, wie bei den Sachſen in England. Das Volk
darin bildet eine concio, aber keine comitia. Mehr kann ich mit
Wachsmuth Jus gent. ap. Graecos p. 18 sq. hierin uͤberein-
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[9/0015] 3. Aber bei allem Unterſchiede der Staͤmme, aus denen das Griechiſche Volk beſtand, gab es doch in der Entwickelungsgeſchichte der Griechiſchen Verfaſſungen einen gemeinſamen Gang, der auch auf ſolche, wel- che fruͤhere Momente mit Anhaͤnglichkeit zum Alten feſt- hielten, einen gewiſſen Einfluß aͤußerte. Indem wir hier verſuchen wollen, dieſen Gang im Allgemeinen nachzu- weiſen, beginnen wir bei der durch Homer ſo anſchau- lich dargeſtellten Verfaſſung heroiſcher Zeit. Dieſe koͤnnen wir kaum anders als Ariſtokratie nennen, weil darin fuͤr das Staatsleben nichts bedeutender iſt, als die genaue Trennung der Edeln (ἂϱιστοι, ἀριστεῖς, ἂνακτες, βασιλεῖς, ἐπικρατέοντες, κατακοιϱανέοντες) und des Volks. Aus jenen werden die Rathsverſamm- lungen und die Gerichte beſetzt 1, und wenn mit bei- den eine Gemeindeverſammlung (ἀγορὰ) verbunden zu ſein pflegt, ſo treten doch darin nur ſtets Edle als vorſchlagend, berathend, ſtimmengebend auf, und das verſammelte Volk iſt nur da, um zu hoͤren und ſeine Stimmung etwa im Ganzen zu aͤußern, auf welche Aeußerungen alsdann Fuͤrſten von milder Geſinnung achten moͤgen 2. Der Herrſcher ſelbſt iſt eigentlich von gleichem Stande mit den uͤbrigen Edlen, und nur durch die ihm verliehene Auktoritaͤt, Anſehn im Rathe und 1 S. uͤber die Geronten unten K. 6. 2 Beſonders muß man auf die Verſammlung Odyſſ. 2. achten, wo indeß Men- tor V. 239. eine eigentlich nicht verfaſſungsmaͤßige Erklaͤrung des Volkes veranlaſſen will. Daß die Homer. Ἀγοϱὰ aber fuͤr ſich Regierungsrechte ausuͤbe, kann ich Platnern de notione juris ap. Hom. p. 108. und Tittmann Griech. Staatsverf. S. 63. nicht zu- geben. Sondern ſie iſt eine Art Wittenagemote, wo nur die Thane Stimmrecht haben, wie bei den Sachſen in England. Das Volk darin bildet eine concio, aber keine comitia. Mehr kann ich mit Wachsmuth Jus gent. ap. Graecos p. 18 sq. hierin uͤberein- ſtimmen.

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Zitationshilfe: Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 2. Breslau, 1824, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische03_1824/15>, abgerufen am 28.03.2024.