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Müller, Johannes: Über die phantastischen Gesichtserscheinungen. Koblenz, 1826.

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cipiendis visionibus, quas pbantasias vocant, Theon Sa-
mius
praestantissimus. Quintil. XII. 10. 6. VI.
2. 29.

51.

Wie groß nun auch der Umfang dieser Erscheinun-
gen in der Geschichte des Lebens seyn mag, so sind in dem
bisherigen Bericht doch nur solche Zeugnisse erwähnt wor-
den, in welchen eine verkehrte durch Mystification entstandene
Auslegung vermißt wird. Wir wollten nur die Stimme
solcher Zeugen hören, welche die Geschichten ihres Sinnes
ohne Leidenschaft, ohne Vorurtheil als Lebensäußerungen
betrachteten. Diese waren weder magnetische Hellseher, noch
entzückte Asceten, noch Dämonische. Erst nachdem wir
das Phaenomen nach allen Seiten begrenzt haben, mögen
wir die Zustände untersuchen, in welchen seine Erscheinung
begünstigt wird.

52.

Es kann nun schon jetzt nicht mehr zweifelhaft seyn, daß
jene Phantasmen wohl nicht durch Wirkung der Einbildungs-
kraft aus den im Sehorgan haftenden Lichtflecken, Nebeln
und Farben ergänzt werden, in der Art wie wir am hellen
Tage durch Wirkung der Einbildungskraft das Unvollkom-
mene zum Vollkommenen ergänzen. Ich habe zwar oft be-
merkt, wie mir bei geschlossenen Augen aus den im Sehfelde
haftenden Lichtflecken und Nebeln besondere Gestalten wurden.
Unter diesen Umständen war aber der Lichtflecken, in dem die
Einbildung bald eine Wolke, bald ein Thier sah, zuletzt
doch haftend. Er verschwand nicht bei allem Wechsel des
Eingebildeten, er blieb, und ich konnte bei seiner Ausdauer
über die Unwahrheit des Eingebildeten reflectiren.

53.

Die Phantasmen entstehen vielmehr am häufigsten

cipiendis visionibus, quas pbantasias vocant, Theon Sa-
mius
praestantissimus. Quintil. XII. 10. 6. VI.
2. 29.

51.

Wie groß nun auch der Umfang dieſer Erſcheinun-
gen in der Geſchichte des Lebens ſeyn mag, ſo ſind in dem
bisherigen Bericht doch nur ſolche Zeugniſſe erwaͤhnt wor-
den, in welchen eine verkehrte durch Myſtification entſtandene
Auslegung vermißt wird. Wir wollten nur die Stimme
ſolcher Zeugen hoͤren, welche die Geſchichten ihres Sinnes
ohne Leidenſchaft, ohne Vorurtheil als Lebensaͤußerungen
betrachteten. Dieſe waren weder magnetiſche Hellſeher, noch
entzuͤckte Asceten, noch Daͤmoniſche. Erſt nachdem wir
das Phaenomen nach allen Seiten begrenzt haben, moͤgen
wir die Zuſtaͤnde unterſuchen, in welchen ſeine Erſcheinung
beguͤnſtigt wird.

52.

Es kann nun ſchon jetzt nicht mehr zweifelhaft ſeyn, daß
jene Phantasmen wohl nicht durch Wirkung der Einbildungs-
kraft aus den im Sehorgan haftenden Lichtflecken, Nebeln
und Farben ergaͤnzt werden, in der Art wie wir am hellen
Tage durch Wirkung der Einbildungskraft das Unvollkom-
mene zum Vollkommenen ergaͤnzen. Ich habe zwar oft be-
merkt, wie mir bei geſchloſſenen Augen aus den im Sehfelde
haftenden Lichtflecken und Nebeln beſondere Geſtalten wurden.
Unter dieſen Umſtaͤnden war aber der Lichtflecken, in dem die
Einbildung bald eine Wolke, bald ein Thier ſah, zuletzt
doch haftend. Er verſchwand nicht bei allem Wechſel des
Eingebildeten, er blieb, und ich konnte bei ſeiner Ausdauer
uͤber die Unwahrheit des Eingebildeten reflectiren.

53.

Die Phantasmen entſtehen vielmehr am haͤufigſten

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[29/0045] cipiendis visionibus, quas pbantasias vocant, Theon Sa- mius praestantissimus. Quintil. XII. 10. 6. VI. 2. 29. 51. Wie groß nun auch der Umfang dieſer Erſcheinun- gen in der Geſchichte des Lebens ſeyn mag, ſo ſind in dem bisherigen Bericht doch nur ſolche Zeugniſſe erwaͤhnt wor- den, in welchen eine verkehrte durch Myſtification entſtandene Auslegung vermißt wird. Wir wollten nur die Stimme ſolcher Zeugen hoͤren, welche die Geſchichten ihres Sinnes ohne Leidenſchaft, ohne Vorurtheil als Lebensaͤußerungen betrachteten. Dieſe waren weder magnetiſche Hellſeher, noch entzuͤckte Asceten, noch Daͤmoniſche. Erſt nachdem wir das Phaenomen nach allen Seiten begrenzt haben, moͤgen wir die Zuſtaͤnde unterſuchen, in welchen ſeine Erſcheinung beguͤnſtigt wird. 52. Es kann nun ſchon jetzt nicht mehr zweifelhaft ſeyn, daß jene Phantasmen wohl nicht durch Wirkung der Einbildungs- kraft aus den im Sehorgan haftenden Lichtflecken, Nebeln und Farben ergaͤnzt werden, in der Art wie wir am hellen Tage durch Wirkung der Einbildungskraft das Unvollkom- mene zum Vollkommenen ergaͤnzen. Ich habe zwar oft be- merkt, wie mir bei geſchloſſenen Augen aus den im Sehfelde haftenden Lichtflecken und Nebeln beſondere Geſtalten wurden. Unter dieſen Umſtaͤnden war aber der Lichtflecken, in dem die Einbildung bald eine Wolke, bald ein Thier ſah, zuletzt doch haftend. Er verſchwand nicht bei allem Wechſel des Eingebildeten, er blieb, und ich konnte bei ſeiner Ausdauer uͤber die Unwahrheit des Eingebildeten reflectiren. 53. Die Phantasmen entſtehen vielmehr am haͤufigſten

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Zitationshilfe: Müller, Johannes: Über die phantastischen Gesichtserscheinungen. Koblenz, 1826, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_gesichtserscheinungen_1826/45>, abgerufen am 29.03.2024.