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Müller, Johannes: Über die phantastischen Gesichtserscheinungen. Koblenz, 1826.

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men natürlich war und nichts Phantastisches hatte, stehend,
gehend, liegend, reitend. Die Gestalt, bis aufs Kleinste
ausgemalt, bewegte sich willig vor ihr, ohne daß sie das
Mindeste dazu that, ohne daß sie wollte oder die Einbil-
dungskraft erregte. Manchmal sah sie ihn umgeben, beson-
ders von etwas Beweglichem, das dunkler war, als der
helle Grund; aber sie unterschied kaum Schattenbilder, die
ihr zuweilen als Menschen, als Pferde, als Bäume, als
Gebirge vorkommen konnten. Gewöhnlich schlief sie über
der Erscheinung ein."

39.

Ich kann es auf das Bestimmteste unterscheiden, in
welchem Moment des Phantasma leuchtend wird. Ich sitze
lange da mit geschlossenen Augen; Alles, was ich mir ein-
bilden will, ist bloße Vorstellung, vorgestellte Begrenzung
im dunkeln Sehfeld, es leuchtet nicht, es bewegt sich nicht
organisch im Sehfelde, auf einmal tritt der Moment
der Sympathie zwischen dem Phantastischen und dem
Lichtnerven ein, urplötzlich stehen Gestalten leuchtend da,
ohne alle Anregung durch die Vorstellung. Die Erschei-
nung ist urplötzlich, sie ist nie zuerst eingebildet, vorgestellt
und dann leuchtend. Ich sehe nicht, was ich sehen möchte;
ich kann mir nur gefallen lassen, was ich ohne alle Anre-
gung leuchtend sehen muß.

40.

Der kurzsichtige Einwurf, daß diese Erscheinungen wie im
Traume nur leuchtend vorgestellt oder, wie man sagt, einge-
bildet werden, fällt hier natürlich von selbst weg. Ich kann
stundenlang mir einbilden und vorstellen, wenn die Dispo-
sition zur leuchtenden Erscheinung nicht da ist, nie wird
dieses zuerst Vorgestellte den Schein der Lebendigkeit erhalten.

men natuͤrlich war und nichts Phantaſtiſches hatte, ſtehend,
gehend, liegend, reitend. Die Geſtalt, bis aufs Kleinſte
ausgemalt, bewegte ſich willig vor ihr, ohne daß ſie das
Mindeſte dazu that, ohne daß ſie wollte oder die Einbil-
dungskraft erregte. Manchmal ſah ſie ihn umgeben, beſon-
ders von etwas Beweglichem, das dunkler war, als der
helle Grund; aber ſie unterſchied kaum Schattenbilder, die
ihr zuweilen als Menſchen, als Pferde, als Baͤume, als
Gebirge vorkommen konnten. Gewoͤhnlich ſchlief ſie uͤber
der Erſcheinung ein.«

39.

Ich kann es auf das Beſtimmteſte unterſcheiden, in
welchem Moment des Phantasma leuchtend wird. Ich ſitze
lange da mit geſchloſſenen Augen; Alles, was ich mir ein-
bilden will, iſt bloße Vorſtellung, vorgeſtellte Begrenzung
im dunkeln Sehfeld, es leuchtet nicht, es bewegt ſich nicht
organiſch im Sehfelde, auf einmal tritt der Moment
der Sympathie zwiſchen dem Phantaſtiſchen und dem
Lichtnerven ein, urploͤtzlich ſtehen Geſtalten leuchtend da,
ohne alle Anregung durch die Vorſtellung. Die Erſchei-
nung iſt urploͤtzlich, ſie iſt nie zuerſt eingebildet, vorgeſtellt
und dann leuchtend. Ich ſehe nicht, was ich ſehen moͤchte;
ich kann mir nur gefallen laſſen, was ich ohne alle Anre-
gung leuchtend ſehen muß.

40.

Der kurzſichtige Einwurf, daß dieſe Erſcheinungen wie im
Traume nur leuchtend vorgeſtellt oder, wie man ſagt, einge-
bildet werden, faͤllt hier natuͤrlich von ſelbſt weg. Ich kann
ſtundenlang mir einbilden und vorſtellen, wenn die Dispo-
ſition zur leuchtenden Erſcheinung nicht da iſt, nie wird
dieſes zuerſt Vorgeſtellte den Schein der Lebendigkeit erhalten.

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[23/0039] men natuͤrlich war und nichts Phantaſtiſches hatte, ſtehend, gehend, liegend, reitend. Die Geſtalt, bis aufs Kleinſte ausgemalt, bewegte ſich willig vor ihr, ohne daß ſie das Mindeſte dazu that, ohne daß ſie wollte oder die Einbil- dungskraft erregte. Manchmal ſah ſie ihn umgeben, beſon- ders von etwas Beweglichem, das dunkler war, als der helle Grund; aber ſie unterſchied kaum Schattenbilder, die ihr zuweilen als Menſchen, als Pferde, als Baͤume, als Gebirge vorkommen konnten. Gewoͤhnlich ſchlief ſie uͤber der Erſcheinung ein.« 39. Ich kann es auf das Beſtimmteſte unterſcheiden, in welchem Moment des Phantasma leuchtend wird. Ich ſitze lange da mit geſchloſſenen Augen; Alles, was ich mir ein- bilden will, iſt bloße Vorſtellung, vorgeſtellte Begrenzung im dunkeln Sehfeld, es leuchtet nicht, es bewegt ſich nicht organiſch im Sehfelde, auf einmal tritt der Moment der Sympathie zwiſchen dem Phantaſtiſchen und dem Lichtnerven ein, urploͤtzlich ſtehen Geſtalten leuchtend da, ohne alle Anregung durch die Vorſtellung. Die Erſchei- nung iſt urploͤtzlich, ſie iſt nie zuerſt eingebildet, vorgeſtellt und dann leuchtend. Ich ſehe nicht, was ich ſehen moͤchte; ich kann mir nur gefallen laſſen, was ich ohne alle Anre- gung leuchtend ſehen muß. 40. Der kurzſichtige Einwurf, daß dieſe Erſcheinungen wie im Traume nur leuchtend vorgeſtellt oder, wie man ſagt, einge- bildet werden, faͤllt hier natuͤrlich von ſelbſt weg. Ich kann ſtundenlang mir einbilden und vorſtellen, wenn die Dispo- ſition zur leuchtenden Erſcheinung nicht da iſt, nie wird dieſes zuerſt Vorgeſtellte den Schein der Lebendigkeit erhalten.

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Zitationshilfe: Müller, Johannes: Über die phantastischen Gesichtserscheinungen. Koblenz, 1826, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_gesichtserscheinungen_1826/39>, abgerufen am 29.03.2024.