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Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 3. Berlin, 1786.

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erst gar nicht erklären, bis er denn freilich merk¬
te, daß hier ein solcher Rollenneid, und ein so
ängstliches Bemühen, einander den Rang abzu¬
laufen, statt fand, daß ein jeder genug für sich
zu sorgen hatte, und wer sich nicht mit Gewalt
hinzudrängte, auch nicht gerufen wurde. --

Reiser hat sich nachher oft an diesen Auftritt
in seinem Leben zurückerinnert, und Betrach¬
tungen darüber angestellt, wie in diesen kindi¬
schen Bestrebungen nach einer so unbedeutenden
Sache, als eine Rolle in einem Stücke war, das
von den Primanern in H. . . aufgeführt wurde,
sich doch das ganze Spiel der menschlichen Lei¬
denschaften eben so vollständig entwickelte, als ob
es die allerwichtigste Angelegenheit betroffen hät¬
te; und wie das Streben gegeneinander, dieß
Verdrängen und wieder verdrängt werden, ein
so getreues Bild des menschlichen Lebens im
Kleinen war, daß Reiser alle seine künftigen
Erfahrungen hierdurch schon gleichsam vorberei¬
tet sahe. --

Dieß kam nun freilich wohl mit daher, weil
den Primanern die Anordnung der Schauspiele,
und die Besetzung der Rollen aus ihrem Mittel

erſt gar nicht erklaͤren, bis er denn freilich merk¬
te, daß hier ein ſolcher Rollenneid, und ein ſo
aͤngſtliches Bemuͤhen, einander den Rang abzu¬
laufen, ſtatt fand, daß ein jeder genug fuͤr ſich
zu ſorgen hatte, und wer ſich nicht mit Gewalt
hinzudraͤngte, auch nicht gerufen wurde. —

Reiſer hat ſich nachher oft an dieſen Auftritt
in ſeinem Leben zuruͤckerinnert, und Betrach¬
tungen daruͤber angeſtellt, wie in dieſen kindi¬
ſchen Beſtrebungen nach einer ſo unbedeutenden
Sache, als eine Rolle in einem Stuͤcke war, das
von den Primanern in H. . . aufgefuͤhrt wurde,
ſich doch das ganze Spiel der menſchlichen Lei¬
denſchaften eben ſo vollſtaͤndig entwickelte, als ob
es die allerwichtigſte Angelegenheit betroffen haͤt¬
te; und wie das Streben gegeneinander, dieß
Verdraͤngen und wieder verdraͤngt werden, ein
ſo getreues Bild des menſchlichen Lebens im
Kleinen war, daß Reiſer alle ſeine kuͤnftigen
Erfahrungen hierdurch ſchon gleichſam vorberei¬
tet ſahe. —

Dieß kam nun freilich wohl mit daher, weil
den Primanern die Anordnung der Schauſpiele,
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[182/0192] erſt gar nicht erklaͤren, bis er denn freilich merk¬ te, daß hier ein ſolcher Rollenneid, und ein ſo aͤngſtliches Bemuͤhen, einander den Rang abzu¬ laufen, ſtatt fand, daß ein jeder genug fuͤr ſich zu ſorgen hatte, und wer ſich nicht mit Gewalt hinzudraͤngte, auch nicht gerufen wurde. — Reiſer hat ſich nachher oft an dieſen Auftritt in ſeinem Leben zuruͤckerinnert, und Betrach¬ tungen daruͤber angeſtellt, wie in dieſen kindi¬ ſchen Beſtrebungen nach einer ſo unbedeutenden Sache, als eine Rolle in einem Stuͤcke war, das von den Primanern in H. . . aufgefuͤhrt wurde, ſich doch das ganze Spiel der menſchlichen Lei¬ denſchaften eben ſo vollſtaͤndig entwickelte, als ob es die allerwichtigſte Angelegenheit betroffen haͤt¬ te; und wie das Streben gegeneinander, dieß Verdraͤngen und wieder verdraͤngt werden, ein ſo getreues Bild des menſchlichen Lebens im Kleinen war, daß Reiſer alle ſeine kuͤnftigen Erfahrungen hierdurch ſchon gleichſam vorberei¬ tet ſahe. — Dieß kam nun freilich wohl mit daher, weil den Primanern die Anordnung der Schauſpiele, und die Beſetzung der Rollen aus ihrem Mittel

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 3. Berlin, 1786, S. 182. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser03_1786/192>, abgerufen am 23.04.2024.