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Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 2. Berlin, 1786.

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schäftigt habe, und nun, da die Frau F... her¬
einkam, erschrocken sey, und folglich den Baum
habe fahren lassen, der nun wirklich umfiel. In
den Gedanken der Frau F. . . war es nun aus¬
gemacht, daß er von den Baum hatte naschen
wollen, und auf die Weise ihr und dem Kinde
eine unschuldige Freude verdorben habe.

Diesen entehrenden Verdacht gab sie Reisern
mit deutlichen Worten zu verstehen, und wie
sollte er ihn von sich abwälzen. Er hatte kei¬
nen Zeugen. Und der Anschein war wieder
ihn. -- Schon die Möglichkeit, daß man
einen solchen Verdacht gegen ihn hegen konn¬
te, erniedrigte ihn bei sich selber, er war in
einem solchen Zustande, wo man gleichsam zu
versinken, oder in einem Augenblick gänzlich ver¬
nichtet zu seyn, wünscht.

Ein Zustand, der eine Art von Seelenläh¬
mung hervorzubringen vermag, welche nicht so
leicht wieder gehoben werden kann. -- Man
fühlt sich in einem solchen Augenblick gleichsam
wie vernichtet, und gäbe sein Leben darum, sich
vor aller Welt verbergen zu können. -- Das
Selbstzutrauen, welches der moralischen Thätig¬

ſchaͤftigt habe, und nun, da die Frau F... her¬
einkam, erſchrocken ſey, und folglich den Baum
habe fahren laſſen, der nun wirklich umfiel. In
den Gedanken der Frau F. . . war es nun aus¬
gemacht, daß er von den Baum hatte naſchen
wollen, und auf die Weiſe ihr und dem Kinde
eine unſchuldige Freude verdorben habe.

Dieſen entehrenden Verdacht gab ſie Reiſern
mit deutlichen Worten zu verſtehen, und wie
ſollte er ihn von ſich abwaͤlzen. Er hatte kei¬
nen Zeugen. Und der Anſchein war wieder
ihn. — Schon die Moͤglichkeit, daß man
einen ſolchen Verdacht gegen ihn hegen konn¬
te, erniedrigte ihn bei ſich ſelber, er war in
einem ſolchen Zuſtande, wo man gleichſam zu
verſinken, oder in einem Augenblick gaͤnzlich ver¬
nichtet zu ſeyn, wuͤnſcht.

Ein Zuſtand, der eine Art von Seelenlaͤh¬
mung hervorzubringen vermag, welche nicht ſo
leicht wieder gehoben werden kann. — Man
fuͤhlt ſich in einem ſolchen Augenblick gleichſam
wie vernichtet, und gaͤbe ſein Leben darum, ſich
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[75/0085] ſchaͤftigt habe, und nun, da die Frau F... her¬ einkam, erſchrocken ſey, und folglich den Baum habe fahren laſſen, der nun wirklich umfiel. In den Gedanken der Frau F. . . war es nun aus¬ gemacht, daß er von den Baum hatte naſchen wollen, und auf die Weiſe ihr und dem Kinde eine unſchuldige Freude verdorben habe. Dieſen entehrenden Verdacht gab ſie Reiſern mit deutlichen Worten zu verſtehen, und wie ſollte er ihn von ſich abwaͤlzen. Er hatte kei¬ nen Zeugen. Und der Anſchein war wieder ihn. — Schon die Moͤglichkeit, daß man einen ſolchen Verdacht gegen ihn hegen konn¬ te, erniedrigte ihn bei ſich ſelber, er war in einem ſolchen Zuſtande, wo man gleichſam zu verſinken, oder in einem Augenblick gaͤnzlich ver¬ nichtet zu ſeyn, wuͤnſcht. Ein Zuſtand, der eine Art von Seelenlaͤh¬ mung hervorzubringen vermag, welche nicht ſo leicht wieder gehoben werden kann. — Man fuͤhlt ſich in einem ſolchen Augenblick gleichſam wie vernichtet, und gaͤbe ſein Leben darum, ſich vor aller Welt verbergen zu koͤnnen. — Das Selbſtzutrauen, welches der moraliſchen Thaͤtig¬

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 2. Berlin, 1786, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser02_1786/85>, abgerufen am 25.04.2024.