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Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 2. Berlin, 1786.

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Mutter sagte: nun Kinder, so hört doch einmal
auf, und laßt das liebe Essen nicht kalt werden!
O, was war der Schuster S. . . für ein Mann! von
ihm konnte man mit Wahrheit sagen, daß er vom
Lehrstuhle die Köpfe der Leute hätte bilden sollen,
denen er Schuh machte. -- Er und Reiser kamen
oft in ihren Gesprächen, ohne alle Anleitung, auf
Dinge, die Reiser nachher als die tiefste Weisheit
in den Vorlesungen über die Metaphysik wieder
hörte, und er hatte oft schon Stundenlang mit dem
Schuster S. . . darüber gesprochen. -- Denn sie
waren ganz von selbst auf die Entwickelung der
Begriffe von Raum und Zeit, von subjektivischer
und objektivischer Welt, u. s. w. gekommen, ohne
die Schulterminologie zu wissen, sie halfen sich
denn mit der Sprache des gemeinen Lebens so gut
sie konnten, welches oft sonderbar genug heraus
kam, -- kurz bei den Schuster S. . . vergaß Rei¬
ser alles. Unangenehme seines Zustandes, er fühlte
sich hier gleichsam in die höhere Geisterwelt ver¬
setzt, und sein Wesen wieder veredelt, weil er je¬
manden fand, mit dem er sich verstehn, und
Gedanken gegen Gedanken wechseln konnte.
Die Stunden, welche er hier bei den Freunden

Mutter ſagte: nun Kinder, ſo hoͤrt doch einmal
auf, und laßt das liebe Eſſen nicht kalt werden!
O, was war der Schuſter S. . . fuͤr ein Mann! von
ihm konnte man mit Wahrheit ſagen, daß er vom
Lehrſtuhle die Koͤpfe der Leute haͤtte bilden ſollen,
denen er Schuh machte. — Er und Reiſer kamen
oft in ihren Geſpraͤchen, ohne alle Anleitung, auf
Dinge, die Reiſer nachher als die tiefſte Weisheit
in den Vorleſungen uͤber die Metaphyſik wieder
hoͤrte, und er hatte oft ſchon Stundenlang mit dem
Schuſter S. . . daruͤber geſprochen. — Denn ſie
waren ganz von ſelbſt auf die Entwickelung der
Begriffe von Raum und Zeit, von ſubjektiviſcher
und objektiviſcher Welt, u. ſ. w. gekommen, ohne
die Schulterminologie zu wiſſen, ſie halfen ſich
denn mit der Sprache des gemeinen Lebens ſo gut
ſie konnten, welches oft ſonderbar genug heraus
kam, — kurz bei den Schuſter S. . . vergaß Rei¬
ſer alles. Unangenehme ſeines Zuſtandes, er fuͤhlte
ſich hier gleichſam in die hoͤhere Geiſterwelt ver¬
ſetzt, und ſein Weſen wieder veredelt, weil er je¬
manden fand, mit dem er ſich verſtehn, und
Gedanken gegen Gedanken wechſeln konnte.
Die Stunden, welche er hier bei den Freunden

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[34/0044] Mutter ſagte: nun Kinder, ſo hoͤrt doch einmal auf, und laßt das liebe Eſſen nicht kalt werden! O, was war der Schuſter S. . . fuͤr ein Mann! von ihm konnte man mit Wahrheit ſagen, daß er vom Lehrſtuhle die Koͤpfe der Leute haͤtte bilden ſollen, denen er Schuh machte. — Er und Reiſer kamen oft in ihren Geſpraͤchen, ohne alle Anleitung, auf Dinge, die Reiſer nachher als die tiefſte Weisheit in den Vorleſungen uͤber die Metaphyſik wieder hoͤrte, und er hatte oft ſchon Stundenlang mit dem Schuſter S. . . daruͤber geſprochen. — Denn ſie waren ganz von ſelbſt auf die Entwickelung der Begriffe von Raum und Zeit, von ſubjektiviſcher und objektiviſcher Welt, u. ſ. w. gekommen, ohne die Schulterminologie zu wiſſen, ſie halfen ſich denn mit der Sprache des gemeinen Lebens ſo gut ſie konnten, welches oft ſonderbar genug heraus kam, — kurz bei den Schuſter S. . . vergaß Rei¬ ſer alles. Unangenehme ſeines Zuſtandes, er fuͤhlte ſich hier gleichſam in die hoͤhere Geiſterwelt ver¬ ſetzt, und ſein Weſen wieder veredelt, weil er je¬ manden fand, mit dem er ſich verſtehn, und Gedanken gegen Gedanken wechſeln konnte. Die Stunden, welche er hier bei den Freunden

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 2. Berlin, 1786, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser02_1786/44>, abgerufen am 19.04.2024.