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Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 2. Berlin, 1786.

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über untröstlich waren, u. s. w. -- Auch fand
er in Leydings Handbibliothek, die ihm jemand
geliehen hatte, ein rührendes Drama in Ver¬
sen: der Einsiedler welches er gern mit J. . .
aufführen wollte. -- Er wünschte sich denn eine
recht affektvolle Rolle, wo er mit dem größten
Pathos reden und sich in eine Reihe von Em¬
pfindungen versetzen könnte, die er so gern hatte,
und sie doch in seiner wirklichen Welt, wo alles
so kahl so armselig zuging, nicht haben konnte.
-- Dieser Wunsch war bei Reisern sehr natür¬
lich; er hatte Gefühle für Freundschaft, für
Dankbarkeit, für Großmuth, und edle Ent¬
schlossenheit, welche alle ungenutzt in ihm schlum¬
merten; denn durch seine äußere Lage schrumpfte
sein Herz zusammen. -- Was Wunder, daß
es sich in einer idealischen Welt wieder zu erwei¬
tern, und seinen natürlichen Empfindungen nach¬
zuhängen suchte! -- In dem Schauspiel schien
er sich gleichsam wieder zu finden, nachdem er
sich in seiner wirklichen Welt beinahe verlohren
hatte -- Darum wurde auch in der Folge seine
Freundschaft mit Philipp Reisern beinahe eine the¬
athralische Freundschaft, die oft so weit ging, daß

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uͤber untroͤſtlich waren, u. ſ. w. — Auch fand
er in Leydings Handbibliothek, die ihm jemand
geliehen hatte, ein ruͤhrendes Drama in Ver¬
ſen: der Einſiedler welches er gern mit J. . .
auffuͤhren wollte. — Er wuͤnſchte ſich denn eine
recht affektvolle Rolle, wo er mit dem groͤßten
Pathos reden und ſich in eine Reihe von Em¬
pfindungen verſetzen koͤnnte, die er ſo gern hatte,
und ſie doch in ſeiner wirklichen Welt, wo alles
ſo kahl ſo armſelig zuging, nicht haben konnte.
— Dieſer Wunſch war bei Reiſern ſehr natuͤr¬
lich; er hatte Gefuͤhle fuͤr Freundſchaft, fuͤr
Dankbarkeit, fuͤr Großmuth, und edle Ent¬
ſchloſſenheit, welche alle ungenutzt in ihm ſchlum¬
merten; denn durch ſeine aͤußere Lage ſchrumpfte
ſein Herz zuſammen. — Was Wunder, daß
es ſich in einer idealiſchen Welt wieder zu erwei¬
tern, und ſeinen natuͤrlichen Empfindungen nach¬
zuhaͤngen ſuchte! — In dem Schauſpiel ſchien
er ſich gleichſam wieder zu finden, nachdem er
ſich in ſeiner wirklichen Welt beinahe verlohren
hatte — Darum wurde auch in der Folge ſeine
Freundſchaft mit Philipp Reiſern beinahe eine the¬
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[99/0109] uͤber untroͤſtlich waren, u. ſ. w. — Auch fand er in Leydings Handbibliothek, die ihm jemand geliehen hatte, ein ruͤhrendes Drama in Ver¬ ſen: der Einſiedler welches er gern mit J. . . auffuͤhren wollte. — Er wuͤnſchte ſich denn eine recht affektvolle Rolle, wo er mit dem groͤßten Pathos reden und ſich in eine Reihe von Em¬ pfindungen verſetzen koͤnnte, die er ſo gern hatte, und ſie doch in ſeiner wirklichen Welt, wo alles ſo kahl ſo armſelig zuging, nicht haben konnte. — Dieſer Wunſch war bei Reiſern ſehr natuͤr¬ lich; er hatte Gefuͤhle fuͤr Freundſchaft, fuͤr Dankbarkeit, fuͤr Großmuth, und edle Ent¬ ſchloſſenheit, welche alle ungenutzt in ihm ſchlum¬ merten; denn durch ſeine aͤußere Lage ſchrumpfte ſein Herz zuſammen. — Was Wunder, daß es ſich in einer idealiſchen Welt wieder zu erwei¬ tern, und ſeinen natuͤrlichen Empfindungen nach¬ zuhaͤngen ſuchte! — In dem Schauſpiel ſchien er ſich gleichſam wieder zu finden, nachdem er ſich in ſeiner wirklichen Welt beinahe verlohren hatte — Darum wurde auch in der Folge ſeine Freundſchaft mit Philipp Reiſern beinahe eine the¬ athraliſche Freundſchaft, die oft ſo weit ging, daß G 2

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 2. Berlin, 1786, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser02_1786/109>, abgerufen am 25.04.2024.