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Moritz, Karl Philipp: Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten. Berlin, 1791.

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Der Name der Titanen zeigt schon das
weit um sich Greifende, Grenzenlose, in ihrem
Wesen an, wodurch die Bildungen, welche sich
die Phantasie von ihnen macht, schwankend
und unbestimmt werden. Die Phantasie flieht
vor dem Grenzenlosen und Unbeschränkten; die
neuen Götter siegen, das Reich der Titanen
hört auf, und ihre Gestalten treten gleichsam
in Nebel zurück, wodurch sie nur noch schwach
hervorschimmern.

An der Stelle des Titanen Helios oder des
Sonnengottes steht der ewig junge Apoll mit
Pfeil und Bogen. Unbestimmt und schwankend
schimmert das Bild vom Helios durch, und die
Phantasie verwechselt in den Werken der Dicht-
kunst oft beide mit einander. So steht an der
Stelle des alten Oceanus, Neptun mit seinem
Dreizack, und beherrscht die Fluthen des Meers.

Demohngeachtet aber bleiben die alten Gott-
heiten noch immer ehrwürdig, denn sie waren
den neuern Göttern nicht etwa wie das Ver-
derbliche und Hassenswürdige dem Wohlthätigen
und Guten entgegengesetzt; sondern Macht em-
pörte sich gegen Macht; Macht siegte über Macht,
und das Besiegte selbst blieb in seinem Sturz
noch groß.

So wie man sich nehmlich unter dem Reiche
der Titanen und unter der Herrschaft des Sa-

Der Name der Titanen zeigt ſchon das
weit um ſich Greifende, Grenzenloſe, in ihrem
Weſen an, wodurch die Bildungen, welche ſich
die Phantaſie von ihnen macht, ſchwankend
und unbeſtimmt werden. Die Phantaſie flieht
vor dem Grenzenloſen und Unbeſchraͤnkten; die
neuen Goͤtter ſiegen, das Reich der Titanen
hoͤrt auf, und ihre Geſtalten treten gleichſam
in Nebel zuruͤck, wodurch ſie nur noch ſchwach
hervorſchimmern.

An der Stelle des Titanen Helios oder des
Sonnengottes ſteht der ewig junge Apoll mit
Pfeil und Bogen. Unbeſtimmt und ſchwankend
ſchimmert das Bild vom Helios durch, und die
Phantaſie verwechſelt in den Werken der Dicht-
kunſt oft beide mit einander. So ſteht an der
Stelle des alten Oceanus, Neptun mit ſeinem
Dreizack, und beherrſcht die Fluthen des Meers.

Demohngeachtet aber bleiben die alten Gott-
heiten noch immer ehrwuͤrdig, denn ſie waren
den neuern Goͤttern nicht etwa wie das Ver-
derbliche und Haſſenswuͤrdige dem Wohlthaͤtigen
und Guten entgegengeſetzt; ſondern Macht em-
poͤrte ſich gegen Macht; Macht ſiegte uͤber Macht,
und das Beſiegte ſelbſt blieb in ſeinem Sturz
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[24/0044] Der Name der Titanen zeigt ſchon das weit um ſich Greifende, Grenzenloſe, in ihrem Weſen an, wodurch die Bildungen, welche ſich die Phantaſie von ihnen macht, ſchwankend und unbeſtimmt werden. Die Phantaſie flieht vor dem Grenzenloſen und Unbeſchraͤnkten; die neuen Goͤtter ſiegen, das Reich der Titanen hoͤrt auf, und ihre Geſtalten treten gleichſam in Nebel zuruͤck, wodurch ſie nur noch ſchwach hervorſchimmern. An der Stelle des Titanen Helios oder des Sonnengottes ſteht der ewig junge Apoll mit Pfeil und Bogen. Unbeſtimmt und ſchwankend ſchimmert das Bild vom Helios durch, und die Phantaſie verwechſelt in den Werken der Dicht- kunſt oft beide mit einander. So ſteht an der Stelle des alten Oceanus, Neptun mit ſeinem Dreizack, und beherrſcht die Fluthen des Meers. Demohngeachtet aber bleiben die alten Gott- heiten noch immer ehrwuͤrdig, denn ſie waren den neuern Goͤttern nicht etwa wie das Ver- derbliche und Haſſenswuͤrdige dem Wohlthaͤtigen und Guten entgegengeſetzt; ſondern Macht em- poͤrte ſich gegen Macht; Macht ſiegte uͤber Macht, und das Beſiegte ſelbſt blieb in ſeinem Sturz noch groß. So wie man ſich nehmlich unter dem Reiche der Titanen und unter der Herrſchaft des Sa-

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten. Berlin, 1791, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_goetterlehre_1791/44>, abgerufen am 20.04.2024.