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Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 8, St. 3. Berlin, 1791.

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daß man z.B. erst den Raum und hernach die drei Linien an sich dächte, sondern auf einmal; und so ist es auch z.B. mit dem Urtheil: Ein rechtwinklichtes Dreieck ist ein Dreieck, beschaffen, indem es blos darum seine Realität hat, weil man ein rechtwinklichtes Dreieck nicht ohne Dreieck überhaupt denken kann. Mit der Vernunft, als dem Vermögen mittelbar zu urtheilen, hat es eben dieselbe Bewandtnis.

Hieraus folgt daß alle Menschen, ja so gar alle denkende Wesen überhaupt einerlei Verstand und Vernunft haben; sie können in diesem Betrachte, nur in Ansehung der Objekte und der Grade dieser Wirkungen verschieden sein. Und selbst dieser Unterschied liegt nicht in den besondern Bestimmungen dieser Kräfte an sich, sondern in der Verschiedenheit des Stofs den die Sinne, und der Verbindungsart des Mannigfaltigen darin, die die Einbildungskraft dazu darbietet.

Gebt einem Duns dieselben sinnlichen Vorstellungen und Reihen der Association, die Neuton gehabt hat, und er wird mit diesen das Weltsystem erfinden. Sobald als die Sinne und die Einbildungskraft die Mittelsätze zur Erfindung einer Wahrheit darbieten, so ist die Wahrheit erfunden.

Diese höheren Seelenkräfte können also von einer Seelenarzeneikunde gänzlich wegbleiben, weil sie an sich keiner Veränderung unterworfen sind. Die Empfindung ist zwar (als Seelenvermögen)


daß man z.B. erst den Raum und hernach die drei Linien an sich daͤchte, sondern auf einmal; und so ist es auch z.B. mit dem Urtheil: Ein rechtwinklichtes Dreieck ist ein Dreieck, beschaffen, indem es blos darum seine Realitaͤt hat, weil man ein rechtwinklichtes Dreieck nicht ohne Dreieck uͤberhaupt denken kann. Mit der Vernunft, als dem Vermoͤgen mittelbar zu urtheilen, hat es eben dieselbe Bewandtnis.

Hieraus folgt daß alle Menschen, ja so gar alle denkende Wesen uͤberhaupt einerlei Verstand und Vernunft haben; sie koͤnnen in diesem Betrachte, nur in Ansehung der Objekte und der Grade dieser Wirkungen verschieden sein. Und selbst dieser Unterschied liegt nicht in den besondern Bestimmungen dieser Kraͤfte an sich, sondern in der Verschiedenheit des Stofs den die Sinne, und der Verbindungsart des Mannigfaltigen darin, die die Einbildungskraft dazu darbietet.

Gebt einem Duns dieselben sinnlichen Vorstellungen und Reihen der Association, die Neuton gehabt hat, und er wird mit diesen das Weltsystem erfinden. Sobald als die Sinne und die Einbildungskraft die Mittelsaͤtze zur Erfindung einer Wahrheit darbieten, so ist die Wahrheit erfunden.

Diese hoͤheren Seelenkraͤfte koͤnnen also von einer Seelenarzeneikunde gaͤnzlich wegbleiben, weil sie an sich keiner Veraͤnderung unterworfen sind. Die Empfindung ist zwar (als Seelenvermoͤgen)

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[5/0005] daß man z.B. erst den Raum und hernach die drei Linien an sich daͤchte, sondern auf einmal; und so ist es auch z.B. mit dem Urtheil: Ein rechtwinklichtes Dreieck ist ein Dreieck, beschaffen, indem es blos darum seine Realitaͤt hat, weil man ein rechtwinklichtes Dreieck nicht ohne Dreieck uͤberhaupt denken kann. Mit der Vernunft, als dem Vermoͤgen mittelbar zu urtheilen, hat es eben dieselbe Bewandtnis. Hieraus folgt daß alle Menschen, ja so gar alle denkende Wesen uͤberhaupt einerlei Verstand und Vernunft haben; sie koͤnnen in diesem Betrachte, nur in Ansehung der Objekte und der Grade dieser Wirkungen verschieden sein. Und selbst dieser Unterschied liegt nicht in den besondern Bestimmungen dieser Kraͤfte an sich, sondern in der Verschiedenheit des Stofs den die Sinne, und der Verbindungsart des Mannigfaltigen darin, die die Einbildungskraft dazu darbietet. Gebt einem Duns dieselben sinnlichen Vorstellungen und Reihen der Association, die Neuton gehabt hat, und er wird mit diesen das Weltsystem erfinden. Sobald als die Sinne und die Einbildungskraft die Mittelsaͤtze zur Erfindung einer Wahrheit darbieten, so ist die Wahrheit erfunden. Diese hoͤheren Seelenkraͤfte koͤnnen also von einer Seelenarzeneikunde gaͤnzlich wegbleiben, weil sie an sich keiner Veraͤnderung unterworfen sind. Die Empfindung ist zwar (als Seelenvermoͤgen)

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 8, St. 3. Berlin, 1791, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0803_1791/5>, abgerufen am 25.04.2024.