Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 7, St. 1. Berlin, 1789.

Bild:
<< vorherige Seite


einfache Totalvorstellung von einer gewissen Ausdehnung veranlassen, und die Gegenstände gleichsam in den hellern Vordergrund unsers Beobachtungskreises stellen.

Uebrigens reichen die Erinnerungen aus den ersten Jahren unseres Lebens, diese nie versiegenden Quellen unsrer nachfolgenden süßesten Freuden, selten über das vierte Jahr hinaus. Die Seelenorgane müssen erst eine gewisse Stärke erhalten, ehe sie Eindrücke dem Gedächtnisse auf lange Zeit überliefern können; obgleich die Denkfähigkeit noch keine Fortschritte gemacht zu haben braucht, da das Gedächtniß, um mich so auszudrücken, mehr animalischer Natur ist. Um die ersten Eindrücke unsrer Kindheit aufzubewahren, und uns nicht ganz unwissend in der ersten Geschichte unsres Daseyns zu machen, heftete die Natur jene Zurückerinnerungen an gewisse Gemüthsbewegungen an, ohne welche wir vielleicht in den ersten Jahren unsrer Kindheit unser Gedächtniß gar nicht üben würden, -- nehmlich Furcht und Freude. Wir werden dieß fast bei allen Zurückerinnerungen aus unserer Kindheit bemerken, indem wir uns nicht leicht an etwas erinnern, ohne daß das Herz Antheil an dem Gegenstande der Erinnerung genommen hätte. Weil aber die Empfindungen in der Kindheit, die mit einer Furcht vergesellschaftet waren, gemeiniglich von einer geringern Anzahl, als die angenehmern sind, weil wir als Kinder Kum-


einfache Totalvorstellung von einer gewissen Ausdehnung veranlassen, und die Gegenstaͤnde gleichsam in den hellern Vordergrund unsers Beobachtungskreises stellen.

Uebrigens reichen die Erinnerungen aus den ersten Jahren unseres Lebens, diese nie versiegenden Quellen unsrer nachfolgenden suͤßesten Freuden, selten uͤber das vierte Jahr hinaus. Die Seelenorgane muͤssen erst eine gewisse Staͤrke erhalten, ehe sie Eindruͤcke dem Gedaͤchtnisse auf lange Zeit uͤberliefern koͤnnen; obgleich die Denkfaͤhigkeit noch keine Fortschritte gemacht zu haben braucht, da das Gedaͤchtniß, um mich so auszudruͤcken, mehr animalischer Natur ist. Um die ersten Eindruͤcke unsrer Kindheit aufzubewahren, und uns nicht ganz unwissend in der ersten Geschichte unsres Daseyns zu machen, heftete die Natur jene Zuruͤckerinnerungen an gewisse Gemuͤthsbewegungen an, ohne welche wir vielleicht in den ersten Jahren unsrer Kindheit unser Gedaͤchtniß gar nicht uͤben wuͤrden, — nehmlich Furcht und Freude. Wir werden dieß fast bei allen Zuruͤckerinnerungen aus unserer Kindheit bemerken, indem wir uns nicht leicht an etwas erinnern, ohne daß das Herz Antheil an dem Gegenstande der Erinnerung genommen haͤtte. Weil aber die Empfindungen in der Kindheit, die mit einer Furcht vergesellschaftet waren, gemeiniglich von einer geringern Anzahl, als die angenehmern sind, weil wir als Kinder Kum-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p> <hi rendition="#b"><pb facs="#f0022" n="20"/><lb/>
einfache Totalvorstellung von einer                             gewissen Ausdehnung veranlassen, und die Gegensta&#x0364;nde gleichsam in den                             hellern Vordergrund unsers Beobachtungskreises stellen.</hi> </p>
            <p>Uebrigens reichen die Erinnerungen aus den ersten Jahren unseres Lebens,                         diese nie versiegenden Quellen unsrer nachfolgenden su&#x0364;ßesten Freuden, selten                         u&#x0364;ber das <hi rendition="#b">vierte</hi> Jahr hinaus. Die Seelenorgane                         mu&#x0364;ssen erst eine gewisse Sta&#x0364;rke erhalten, ehe sie Eindru&#x0364;cke dem Geda&#x0364;chtnisse                         auf lange Zeit u&#x0364;berliefern ko&#x0364;nnen; obgleich die Denkfa&#x0364;higkeit noch keine                         Fortschritte gemacht zu haben braucht, da das Geda&#x0364;chtniß, um mich so                         auszudru&#x0364;cken, mehr <hi rendition="#b">animalischer</hi> Natur ist. Um die                         ersten Eindru&#x0364;cke unsrer Kindheit aufzubewahren, und uns nicht ganz unwissend                         in der ersten Geschichte unsres Daseyns zu machen, heftete die Natur jene                         Zuru&#x0364;ckerinnerungen an gewisse <hi rendition="#b">Gemu&#x0364;thsbewegungen</hi> an,                         ohne welche wir vielleicht in den ersten Jahren unsrer Kindheit unser                         Geda&#x0364;chtniß gar nicht u&#x0364;ben wu&#x0364;rden, &#x2014; nehmlich <hi rendition="#b">Furcht</hi> und <hi rendition="#b">Freude.</hi> Wir werden dieß fast bei allen                         Zuru&#x0364;ckerinnerungen aus unserer Kindheit bemerken, indem wir uns nicht leicht                         an etwas erinnern, ohne daß das Herz Antheil an dem Gegenstande der                         Erinnerung genommen ha&#x0364;tte. Weil aber die Empfindungen in der Kindheit, die                         mit einer Furcht vergesellschaftet waren, gemeiniglich von einer geringern                         Anzahl, als die angenehmern sind, weil wir als Kinder Kum-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[20/0022] einfache Totalvorstellung von einer gewissen Ausdehnung veranlassen, und die Gegenstaͤnde gleichsam in den hellern Vordergrund unsers Beobachtungskreises stellen. Uebrigens reichen die Erinnerungen aus den ersten Jahren unseres Lebens, diese nie versiegenden Quellen unsrer nachfolgenden suͤßesten Freuden, selten uͤber das vierte Jahr hinaus. Die Seelenorgane muͤssen erst eine gewisse Staͤrke erhalten, ehe sie Eindruͤcke dem Gedaͤchtnisse auf lange Zeit uͤberliefern koͤnnen; obgleich die Denkfaͤhigkeit noch keine Fortschritte gemacht zu haben braucht, da das Gedaͤchtniß, um mich so auszudruͤcken, mehr animalischer Natur ist. Um die ersten Eindruͤcke unsrer Kindheit aufzubewahren, und uns nicht ganz unwissend in der ersten Geschichte unsres Daseyns zu machen, heftete die Natur jene Zuruͤckerinnerungen an gewisse Gemuͤthsbewegungen an, ohne welche wir vielleicht in den ersten Jahren unsrer Kindheit unser Gedaͤchtniß gar nicht uͤben wuͤrden, — nehmlich Furcht und Freude. Wir werden dieß fast bei allen Zuruͤckerinnerungen aus unserer Kindheit bemerken, indem wir uns nicht leicht an etwas erinnern, ohne daß das Herz Antheil an dem Gegenstande der Erinnerung genommen haͤtte. Weil aber die Empfindungen in der Kindheit, die mit einer Furcht vergesellschaftet waren, gemeiniglich von einer geringern Anzahl, als die angenehmern sind, weil wir als Kinder Kum-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christof Wingertszahn, Sheila Dickson, Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, University of Glasgow: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien (2015-06-09T11:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat (2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-06-09T11:00:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.
  • Die Umlautschreibung mit ›e‹ über dem Vokal wurden übernommen.
  • Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.
  • Verbessert wird nur bei eindeutigen Druckfehlern. Die editorischen Eingriffe sind stets nachgewiesen.
  • Zu Moritz’ Zeit war es üblich, bei mehrzeiligen Zitaten vor jeder Zeile Anführungsstriche zu setzen. Diese wiederholten Anführungsstriche des Originals werden stillschweigend getilgt.
  • Die Druckgestalt der Vorlagen (Absätze, Überschriften, Schriftgrade etc.) wird schematisiert wiedergegeben. Der Zeilenfall wurde nicht übernommen.
  • Worteinfügungen der Herausgeber im edierten Text sowie Ergänzungen einzelner Buchstaben sind dokumentiert.
  • Die Originalseite wird als einzelne Seite in der Internetausgabe wiedergegeben. Von diesem Darstellungsprinzip wird bei langen, sich über mehr als eine Seite erstreckenden Fußnoten abgewichen. Die vollständige Fußnote erscheint in diesem Fall zusammenhängend an der ersten betreffenden Seite.
  • Die textkritischen Nachweise erfolgen in XML-Form nach dem DTABf-Schema: <choice><corr>[Verbesserung]</corr><sic>[Originaltext]</sic></choice> vorgenommen.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0701_1789
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0701_1789/22
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 7, St. 1. Berlin, 1789, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0701_1789/22>, abgerufen am 20.04.2024.