Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 6, St. 3. Berlin, 1788.

Bild:
<< vorherige Seite


weit von dir gerissen, sterben sollte, denn überbringe ich dir selbst die Todespost. Nun erblickt sie in dem täuschenden Manne den verlohrnen Bruder, schreit auf: ach Leopold! so hieß der Bruder, und weg ist das Bild!" --

Dies Phänomen ist wohl nicht schwer zu erklären. Was ist natürlicher, als daß die Wöchnerinn ihren geliebten nach der Türkey gereisten Bruder sich öfters in orientalischer Kleidung gedacht hat, und daß sie durch einen Jdeensprung auch wohl einmahl ihrem Manne ein solches Kleid andichtete, zumal da sie als Schauspielerinn, oder Täntzerinn viel so gekleidete Masquen gesehen haben mag. Der Mann antwortete nicht, da sie ihm ruft -- nun fällt ihr eben so natürlich ihr entfernter Bruder ein, sie trägt seine Gesichtszüge vermöge der Einbildungskraft in das Bild über, und glaubt nun würklich ihren Bruder zu sehen; das Bild der Jmagination wird so stark, als eine würklich sinnliche Anschauung, was so unzählig oft bei lebhaften Leuten der Fall ist. Jn allen diesen Jdeenfolgen liegt nichts Ungewöhnliches. Hiezu kommt noch der vom Herrn Einsender sehr richtig bemerkte Umstand, daß sie eineWöchnerinn, folglich eine Kranke war, deren Nervensystem angegriffen und in einer Zerrüttung war. "Einer solchen oft ganz kurz daurenden Disposition, (fährt der Verfasser sehr gründlich zu raisonniren fort,) und sonderlich der körperlichen Theile, die uns Jdeen durch äußre sinnliche Vorstellungen zuführen, schrei-


weit von dir gerissen, sterben sollte, denn uͤberbringe ich dir selbst die Todespost. Nun erblickt sie in dem taͤuschenden Manne den verlohrnen Bruder, schreit auf: ach Leopold! so hieß der Bruder, und weg ist das Bild!« —

Dies Phaͤnomen ist wohl nicht schwer zu erklaͤren. Was ist natuͤrlicher, als daß die Woͤchnerinn ihren geliebten nach der Tuͤrkey gereisten Bruder sich oͤfters in orientalischer Kleidung gedacht hat, und daß sie durch einen Jdeensprung auch wohl einmahl ihrem Manne ein solches Kleid andichtete, zumal da sie als Schauspielerinn, oder Taͤntzerinn viel so gekleidete Masquen gesehen haben mag. Der Mann antwortete nicht, da sie ihm ruft — nun faͤllt ihr eben so natuͤrlich ihr entfernter Bruder ein, sie traͤgt seine Gesichtszuͤge vermoͤge der Einbildungskraft in das Bild uͤber, und glaubt nun wuͤrklich ihren Bruder zu sehen; das Bild der Jmagination wird so stark, als eine wuͤrklich sinnliche Anschauung, was so unzaͤhlig oft bei lebhaften Leuten der Fall ist. Jn allen diesen Jdeenfolgen liegt nichts Ungewoͤhnliches. Hiezu kommt noch der vom Herrn Einsender sehr richtig bemerkte Umstand, daß sie eineWoͤchnerinn, folglich eine Kranke war, deren Nervensystem angegriffen und in einer Zerruͤttung war. »Einer solchen oft ganz kurz daurenden Disposition, (faͤhrt der Verfasser sehr gruͤndlich zu raisonniren fort,) und sonderlich der koͤrperlichen Theile, die uns Jdeen durch aͤußre sinnliche Vorstellungen zufuͤhren, schrei-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0008" n="8"/><lb/>
weit von dir gerissen, sterben                         sollte, denn u&#x0364;berbringe ich dir selbst die Todespost. Nun erblickt sie in                         dem ta&#x0364;uschenden Manne den verlohrnen Bruder, schreit auf: ach Leopold! so                         hieß der Bruder, und weg ist das Bild!« &#x2014;</p>
            <p>Dies <choice><corr>Pha&#x0364;nomen</corr><sic>Pho&#x0364;nomen</sic></choice>                         ist wohl nicht schwer zu erkla&#x0364;ren. Was ist natu&#x0364;rlicher, als daß die                         Wo&#x0364;chnerinn ihren geliebten nach der Tu&#x0364;rkey gereisten Bruder sich o&#x0364;fters in                         orientalischer Kleidung gedacht hat, und daß sie durch einen Jdeensprung                         auch wohl einmahl ihrem Manne ein solches Kleid andichtete, zumal da sie als                         Schauspielerinn, oder Ta&#x0364;ntzerinn viel so gekleidete Masquen gesehen haben                         mag. Der Mann antwortete nicht, da sie ihm ruft &#x2014; nun fa&#x0364;llt ihr eben so                         natu&#x0364;rlich ihr entfernter Bruder ein, sie tra&#x0364;gt seine Gesichtszu&#x0364;ge vermo&#x0364;ge                         der Einbildungskraft in das Bild u&#x0364;ber, und glaubt nun wu&#x0364;rklich ihren Bruder                         zu sehen; das Bild der Jmagination wird so stark, als eine wu&#x0364;rklich                         sinnliche Anschauung, was so unza&#x0364;hlig oft bei lebhaften Leuten der Fall ist.                         Jn allen diesen Jdeenfolgen liegt nichts Ungewo&#x0364;hnliches. Hiezu kommt noch                         der vom Herrn Einsender sehr richtig bemerkte Umstand, daß sie eine<hi rendition="#b">Wo&#x0364;chnerinn,</hi> folglich eine Kranke war, deren                         Nervensystem angegriffen und in einer Zerru&#x0364;ttung war. »Einer solchen oft                         ganz kurz daurenden Disposition, (fa&#x0364;hrt der Verfasser sehr gru&#x0364;ndlich zu                         raisonniren fort,) und sonderlich der ko&#x0364;rperlichen Theile, die uns Jdeen                         durch <choice><corr>a&#x0364;ußre</corr><sic>a&#x0364;uß re</sic></choice>                         sinnliche Vorstellungen zufu&#x0364;hren, schrei-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[8/0008] weit von dir gerissen, sterben sollte, denn uͤberbringe ich dir selbst die Todespost. Nun erblickt sie in dem taͤuschenden Manne den verlohrnen Bruder, schreit auf: ach Leopold! so hieß der Bruder, und weg ist das Bild!« — Dies Phaͤnomen ist wohl nicht schwer zu erklaͤren. Was ist natuͤrlicher, als daß die Woͤchnerinn ihren geliebten nach der Tuͤrkey gereisten Bruder sich oͤfters in orientalischer Kleidung gedacht hat, und daß sie durch einen Jdeensprung auch wohl einmahl ihrem Manne ein solches Kleid andichtete, zumal da sie als Schauspielerinn, oder Taͤntzerinn viel so gekleidete Masquen gesehen haben mag. Der Mann antwortete nicht, da sie ihm ruft — nun faͤllt ihr eben so natuͤrlich ihr entfernter Bruder ein, sie traͤgt seine Gesichtszuͤge vermoͤge der Einbildungskraft in das Bild uͤber, und glaubt nun wuͤrklich ihren Bruder zu sehen; das Bild der Jmagination wird so stark, als eine wuͤrklich sinnliche Anschauung, was so unzaͤhlig oft bei lebhaften Leuten der Fall ist. Jn allen diesen Jdeenfolgen liegt nichts Ungewoͤhnliches. Hiezu kommt noch der vom Herrn Einsender sehr richtig bemerkte Umstand, daß sie eineWoͤchnerinn, folglich eine Kranke war, deren Nervensystem angegriffen und in einer Zerruͤttung war. »Einer solchen oft ganz kurz daurenden Disposition, (faͤhrt der Verfasser sehr gruͤndlich zu raisonniren fort,) und sonderlich der koͤrperlichen Theile, die uns Jdeen durch aͤußre sinnliche Vorstellungen zufuͤhren, schrei-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christof Wingertszahn, Sheila Dickson, Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, University of Glasgow: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien (2015-06-09T11:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat (2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-06-09T11:00:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.
  • Die Umlautschreibung mit ›e‹ über dem Vokal wurden übernommen.
  • Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.
  • Verbessert wird nur bei eindeutigen Druckfehlern. Die editorischen Eingriffe sind stets nachgewiesen.
  • Zu Moritz’ Zeit war es üblich, bei mehrzeiligen Zitaten vor jeder Zeile Anführungsstriche zu setzen. Diese wiederholten Anführungsstriche des Originals werden stillschweigend getilgt.
  • Die Druckgestalt der Vorlagen (Absätze, Überschriften, Schriftgrade etc.) wird schematisiert wiedergegeben. Der Zeilenfall wurde nicht übernommen.
  • Worteinfügungen der Herausgeber im edierten Text sowie Ergänzungen einzelner Buchstaben sind dokumentiert.
  • Die Originalseite wird als einzelne Seite in der Internetausgabe wiedergegeben. Von diesem Darstellungsprinzip wird bei langen, sich über mehr als eine Seite erstreckenden Fußnoten abgewichen. Die vollständige Fußnote erscheint in diesem Fall zusammenhängend an der ersten betreffenden Seite.
  • Die textkritischen Nachweise erfolgen in XML-Form nach dem DTABf-Schema: <choice><corr>[Verbesserung]</corr><sic>[Originaltext]</sic></choice> vorgenommen.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0603_1788
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0603_1788/8
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 6, St. 3. Berlin, 1788, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0603_1788/8>, abgerufen am 29.03.2024.