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Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 6, St. 3. Berlin, 1788.

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lich krank wird, und stirbt, scheint nun freilich etwas außerordentliches zu seyn, allein es entstehen hier wieder eine Menge Fragen. War das Kind nicht überhaupt schon kränklich; hat die Erzählung der Erscheinung wo nicht unmittelbar auf das Kind, aber doch vielleicht durch die Mutter, durch die Amme auf dasselbe würken können, herrschte nicht grade damahls eine Epidemie? -- oder was mir auch sehr wichtig scheint, glaubte nicht der gute Vater, als er sein todtes Kind würklich vor sich liegen sahe, vorher einen solchen Anblick des Nachts gehabt zu haben, den er nicht gehabt hatte; so wie wir oft nach einer auffallenden Begebenheit darauf schwören sollten, daß wir schon vorher davon gewisse Empfindungen gehabt hätten, die wir doch gewiß nicht gehabt haben. Die menschliche Seele transferirt oft gegenwärtige Sensationen durch die Einbildungskraft auf längst vergangene Zustände ihrer Existenz, und glaubt hinterher Sachen vorher gesehen zu haben, die ihr vor dem Factum nicht in den Sinn gekommen sind. (Jch wünschte daß dieses Capitel der Seelenlehre von einem scharfsinnigen Kopfe einmal genau abgehandelt werden möchte.) Daß der Vater das Kind in der nehmlichen Todtenkleidung sahe, als es ihm vorher erschienen war, ist wohl nichts besonders, da ein Sterbe-Hemd, unter welchem man sich die Todten gemeiniglich denkt, der gewöhnliche Putz ist, den man uns in die Erde mit giebt. Auch werden die


lich krank wird, und stirbt, scheint nun freilich etwas außerordentliches zu seyn, allein es entstehen hier wieder eine Menge Fragen. War das Kind nicht uͤberhaupt schon kraͤnklich; hat die Erzaͤhlung der Erscheinung wo nicht unmittelbar auf das Kind, aber doch vielleicht durch die Mutter, durch die Amme auf dasselbe wuͤrken koͤnnen, herrschte nicht grade damahls eine Epidemie? — oder was mir auch sehr wichtig scheint, glaubte nicht der gute Vater, als er sein todtes Kind wuͤrklich vor sich liegen sahe, vorher einen solchen Anblick des Nachts gehabt zu haben, den er nicht gehabt hatte; so wie wir oft nach einer auffallenden Begebenheit darauf schwoͤren sollten, daß wir schon vorher davon gewisse Empfindungen gehabt haͤtten, die wir doch gewiß nicht gehabt haben. Die menschliche Seele transferirt oft gegenwaͤrtige Sensationen durch die Einbildungskraft auf laͤngst vergangene Zustaͤnde ihrer Existenz, und glaubt hinterher Sachen vorher gesehen zu haben, die ihr vor dem Factum nicht in den Sinn gekommen sind. (Jch wuͤnschte daß dieses Capitel der Seelenlehre von einem scharfsinnigen Kopfe einmal genau abgehandelt werden moͤchte.) Daß der Vater das Kind in der nehmlichen Todtenkleidung sahe, als es ihm vorher erschienen war, ist wohl nichts besonders, da ein Sterbe-Hemd, unter welchem man sich die Todten gemeiniglich denkt, der gewoͤhnliche Putz ist, den man uns in die Erde mit giebt. Auch werden die

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[12/0012] lich krank wird, und stirbt, scheint nun freilich etwas außerordentliches zu seyn, allein es entstehen hier wieder eine Menge Fragen. War das Kind nicht uͤberhaupt schon kraͤnklich; hat die Erzaͤhlung der Erscheinung wo nicht unmittelbar auf das Kind, aber doch vielleicht durch die Mutter, durch die Amme auf dasselbe wuͤrken koͤnnen, herrschte nicht grade damahls eine Epidemie? — oder was mir auch sehr wichtig scheint, glaubte nicht der gute Vater, als er sein todtes Kind wuͤrklich vor sich liegen sahe, vorher einen solchen Anblick des Nachts gehabt zu haben, den er nicht gehabt hatte; so wie wir oft nach einer auffallenden Begebenheit darauf schwoͤren sollten, daß wir schon vorher davon gewisse Empfindungen gehabt haͤtten, die wir doch gewiß nicht gehabt haben. Die menschliche Seele transferirt oft gegenwaͤrtige Sensationen durch die Einbildungskraft auf laͤngst vergangene Zustaͤnde ihrer Existenz, und glaubt hinterher Sachen vorher gesehen zu haben, die ihr vor dem Factum nicht in den Sinn gekommen sind. (Jch wuͤnschte daß dieses Capitel der Seelenlehre von einem scharfsinnigen Kopfe einmal genau abgehandelt werden moͤchte.) Daß der Vater das Kind in der nehmlichen Todtenkleidung sahe, als es ihm vorher erschienen war, ist wohl nichts besonders, da ein Sterbe-Hemd, unter welchem man sich die Todten gemeiniglich denkt, der gewoͤhnliche Putz ist, den man uns in die Erde mit giebt. Auch werden die

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 6, St. 3. Berlin, 1788, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0603_1788/12>, abgerufen am 19.04.2024.