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Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 1. Berlin, 1787.

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Andern mit einem feinern physiognomischen Gefühl begabt hat; weil der Eine mehr, der Andere weniger Einbildungskraft zu seinen Beobachtungen bringt, und weil sich überhaupt unsere Vorstellungen so genau nach der jedesmahligen Beschaffenheit unserer Organe zu richten pflegen. Ausserdem hat die gute oder böse Laune, die Gesundheit oder Krankheit des Bluts und die Verschiedenheit des Alters einen erstaunlichen Einfluß auf die Sympathie oder Antipathie unserer Empfindungen.

Es giebt offenbar Augenblicke worin unser Herz durch eine innere Verstimmung der Seele veranlaßt, mehr zur Gefühllosigkeit als zur Theilnehmung geneigt ist, und worin sich unsere Vorstellungen gleichsam verschworen haben, uns jede Sache von ihrer schwarzen Seite darzustellen. So erschlafft wir uns in diesem Zustande zur Thätigkeit und Geistesanstrengung fühlen, so geschäftig ist doch alsdann unsere Einbildungskraft, uns gegen die unschuldigsten Gegenstände zu erbittern, und uns an jedem Menschen seine schlimsten Seiten sehen zu lassen. Unsere besten Freunde haben alsdann etwas Widerliches an sich, und unser durch die Galle gleichsam geschärftes Auge entdeckt Fehler an ihnen, die wir sonst nicht bemerkten. Besonders stark würkt auf uns in solchen Augenblicken der übeln Laune der Gesichtsausdruck Anderer. Wir können uns alsdann über eine bloße Miene, die uns nicht gefällt, so entrüsten, als ob man uns die größte Beleidigung an-


Andern mit einem feinern physiognomischen Gefuͤhl begabt hat; weil der Eine mehr, der Andere weniger Einbildungskraft zu seinen Beobachtungen bringt, und weil sich uͤberhaupt unsere Vorstellungen so genau nach der jedesmahligen Beschaffenheit unserer Organe zu richten pflegen. Ausserdem hat die gute oder boͤse Laune, die Gesundheit oder Krankheit des Bluts und die Verschiedenheit des Alters einen erstaunlichen Einfluß auf die Sympathie oder Antipathie unserer Empfindungen.

Es giebt offenbar Augenblicke worin unser Herz durch eine innere Verstimmung der Seele veranlaßt, mehr zur Gefuͤhllosigkeit als zur Theilnehmung geneigt ist, und worin sich unsere Vorstellungen gleichsam verschworen haben, uns jede Sache von ihrer schwarzen Seite darzustellen. So erschlafft wir uns in diesem Zustande zur Thaͤtigkeit und Geistesanstrengung fuͤhlen, so geschaͤftig ist doch alsdann unsere Einbildungskraft, uns gegen die unschuldigsten Gegenstaͤnde zu erbittern, und uns an jedem Menschen seine schlimsten Seiten sehen zu lassen. Unsere besten Freunde haben alsdann etwas Widerliches an sich, und unser durch die Galle gleichsam geschaͤrftes Auge entdeckt Fehler an ihnen, die wir sonst nicht bemerkten. Besonders stark wuͤrkt auf uns in solchen Augenblicken der uͤbeln Laune der Gesichtsausdruck Anderer. Wir koͤnnen uns alsdann uͤber eine bloße Miene, die uns nicht gefaͤllt, so entruͤsten, als ob man uns die groͤßte Beleidigung an-

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[41/0043] Andern mit einem feinern physiognomischen Gefuͤhl begabt hat; weil der Eine mehr, der Andere weniger Einbildungskraft zu seinen Beobachtungen bringt, und weil sich uͤberhaupt unsere Vorstellungen so genau nach der jedesmahligen Beschaffenheit unserer Organe zu richten pflegen. Ausserdem hat die gute oder boͤse Laune, die Gesundheit oder Krankheit des Bluts und die Verschiedenheit des Alters einen erstaunlichen Einfluß auf die Sympathie oder Antipathie unserer Empfindungen. Es giebt offenbar Augenblicke worin unser Herz durch eine innere Verstimmung der Seele veranlaßt, mehr zur Gefuͤhllosigkeit als zur Theilnehmung geneigt ist, und worin sich unsere Vorstellungen gleichsam verschworen haben, uns jede Sache von ihrer schwarzen Seite darzustellen. So erschlafft wir uns in diesem Zustande zur Thaͤtigkeit und Geistesanstrengung fuͤhlen, so geschaͤftig ist doch alsdann unsere Einbildungskraft, uns gegen die unschuldigsten Gegenstaͤnde zu erbittern, und uns an jedem Menschen seine schlimsten Seiten sehen zu lassen. Unsere besten Freunde haben alsdann etwas Widerliches an sich, und unser durch die Galle gleichsam geschaͤrftes Auge entdeckt Fehler an ihnen, die wir sonst nicht bemerkten. Besonders stark wuͤrkt auf uns in solchen Augenblicken der uͤbeln Laune der Gesichtsausdruck Anderer. Wir koͤnnen uns alsdann uͤber eine bloße Miene, die uns nicht gefaͤllt, so entruͤsten, als ob man uns die groͤßte Beleidigung an-

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 1. Berlin, 1787, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0501_1787/43>, abgerufen am 19.04.2024.