Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 2. Berlin, 1784.

Bild:
<< vorherige Seite


ehe ich sie unternahm, eine ungewöhnliche Empfindung dagegen, nicht Abneigung, denn ich hatte Lust dazu, eher eine Art von Warnung; folgte ich dieser Warnung nicht, so hatte ich allemal Schaden oder Unglück, Verdruß etc.

Dieß brachte mich zuerst auf die Jdee: Hat der Mensch auch ein Vorhersehungsvermögen? Jch las darüber Verschiedenes, und die Gründe dafür nahmen zu. Folgende besondere Beispiele bestärkten meine Meinung. Hier sind sie:

1) Der Archidiakonus Kirchner in Strehlen studierte in Königsberg, ging von der Akademie mit einer Landkutsche; bald fuhr er, bald ging er. An einem Sonntage war er müde, setzte sich auf die Kutsche, und stellte über verschiedene Gegenstände der Religion Betrachtungen an. Auf einmal entstand in seiner Seele der lebhafte Gedanken: Springe vom Wagen! Er konnte sich, so lebhaft war der Gedanke, fast nicht besinnen, sprang vom Wagen, und ging. Kaum war er einige dreißig Schritt gegangen, als der Wagen umfiel, und Tonnen und Kasten, welche der Fuhrmann geladen, herabstürzten. Blieb er sitzen, so wurde er sicher zerquetscht.

2) Meine Großmutter wurde, wider ihren Willen, in der katholischen Religion erzogen, (sie hatte Eltern zweierlei Religion) in ein Kloster gesteckt, aus dem sie entfloh und sich verehlichte. Neunzehn Wochen nach ihrer Heirath wurde sie


ehe ich sie unternahm, eine ungewoͤhnliche Empfindung dagegen, nicht Abneigung, denn ich hatte Lust dazu, eher eine Art von Warnung; folgte ich dieser Warnung nicht, so hatte ich allemal Schaden oder Ungluͤck, Verdruß etc.

Dieß brachte mich zuerst auf die Jdee: Hat der Mensch auch ein Vorhersehungsvermoͤgen? Jch las daruͤber Verschiedenes, und die Gruͤnde dafuͤr nahmen zu. Folgende besondere Beispiele bestaͤrkten meine Meinung. Hier sind sie:

1) Der Archidiakonus Kirchner in Strehlen studierte in Koͤnigsberg, ging von der Akademie mit einer Landkutsche; bald fuhr er, bald ging er. An einem Sonntage war er muͤde, setzte sich auf die Kutsche, und stellte uͤber verschiedene Gegenstaͤnde der Religion Betrachtungen an. Auf einmal entstand in seiner Seele der lebhafte Gedanken: Springe vom Wagen! Er konnte sich, so lebhaft war der Gedanke, fast nicht besinnen, sprang vom Wagen, und ging. Kaum war er einige dreißig Schritt gegangen, als der Wagen umfiel, und Tonnen und Kasten, welche der Fuhrmann geladen, herabstuͤrzten. Blieb er sitzen, so wurde er sicher zerquetscht.

2) Meine Großmutter wurde, wider ihren Willen, in der katholischen Religion erzogen, (sie hatte Eltern zweierlei Religion) in ein Kloster gesteckt, aus dem sie entfloh und sich verehlichte. Neunzehn Wochen nach ihrer Heirath wurde sie

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0100" n="100"/><lb/>
ehe ich sie                         unternahm, eine ungewo&#x0364;hnliche Empfindung dagegen, nicht Abneigung, denn ich                         hatte Lust dazu, eher eine Art von Warnung; folgte ich dieser Warnung nicht,                         so hatte ich allemal Schaden oder Unglu&#x0364;ck, Verdruß etc.</p>
            <p>Dieß brachte mich zuerst auf die Jdee: Hat der Mensch auch ein                         Vorhersehungsvermo&#x0364;gen? Jch las daru&#x0364;ber Verschiedenes, und die Gru&#x0364;nde dafu&#x0364;r                         nahmen zu. Folgende besondere Beispiele besta&#x0364;rkten meine Meinung. Hier sind                         sie:</p>
            <p>1) Der Archidiakonus <hi rendition="#b">Kirchner</hi> in Strehlen studierte in                         Ko&#x0364;nigsberg, ging von der Akademie mit einer Landkutsche; bald fuhr er, bald                         ging er. An einem Sonntage war er mu&#x0364;de, setzte sich auf die Kutsche, und                         stellte u&#x0364;ber verschiedene Gegensta&#x0364;nde der Religion Betrachtungen an. Auf                         einmal entstand in seiner Seele der lebhafte Gedanken: Springe vom Wagen! Er                         konnte sich, so lebhaft war der Gedanke, fast nicht besinnen, sprang vom                         Wagen, und ging. Kaum war er einige dreißig Schritt gegangen, als der Wagen                         umfiel, und Tonnen und Kasten, welche der Fuhrmann geladen, herabstu&#x0364;rzten.                         Blieb er sitzen, so wurde er sicher zerquetscht.</p>
            <p>2) Meine Großmutter wurde, wider ihren Willen, in der katholischen Religion                         erzogen, (sie hatte Eltern zweierlei Religion) in ein Kloster gesteckt, aus                         dem sie entfloh und sich verehlichte. Neunzehn Wochen nach ihrer Heirath                         wurde sie<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[100/0100] ehe ich sie unternahm, eine ungewoͤhnliche Empfindung dagegen, nicht Abneigung, denn ich hatte Lust dazu, eher eine Art von Warnung; folgte ich dieser Warnung nicht, so hatte ich allemal Schaden oder Ungluͤck, Verdruß etc. Dieß brachte mich zuerst auf die Jdee: Hat der Mensch auch ein Vorhersehungsvermoͤgen? Jch las daruͤber Verschiedenes, und die Gruͤnde dafuͤr nahmen zu. Folgende besondere Beispiele bestaͤrkten meine Meinung. Hier sind sie: 1) Der Archidiakonus Kirchner in Strehlen studierte in Koͤnigsberg, ging von der Akademie mit einer Landkutsche; bald fuhr er, bald ging er. An einem Sonntage war er muͤde, setzte sich auf die Kutsche, und stellte uͤber verschiedene Gegenstaͤnde der Religion Betrachtungen an. Auf einmal entstand in seiner Seele der lebhafte Gedanken: Springe vom Wagen! Er konnte sich, so lebhaft war der Gedanke, fast nicht besinnen, sprang vom Wagen, und ging. Kaum war er einige dreißig Schritt gegangen, als der Wagen umfiel, und Tonnen und Kasten, welche der Fuhrmann geladen, herabstuͤrzten. Blieb er sitzen, so wurde er sicher zerquetscht. 2) Meine Großmutter wurde, wider ihren Willen, in der katholischen Religion erzogen, (sie hatte Eltern zweierlei Religion) in ein Kloster gesteckt, aus dem sie entfloh und sich verehlichte. Neunzehn Wochen nach ihrer Heirath wurde sie

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christof Wingertszahn, Sheila Dickson, Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, University of Glasgow: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien (2015-06-09T11:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat (2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-06-09T11:00:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.
  • Die Umlautschreibung mit ›e‹ über dem Vokal wurden übernommen.
  • Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.
  • Verbessert wird nur bei eindeutigen Druckfehlern. Die editorischen Eingriffe sind stets nachgewiesen.
  • Zu Moritz’ Zeit war es üblich, bei mehrzeiligen Zitaten vor jeder Zeile Anführungsstriche zu setzen. Diese wiederholten Anführungsstriche des Originals werden stillschweigend getilgt.
  • Die Druckgestalt der Vorlagen (Absätze, Überschriften, Schriftgrade etc.) wird schematisiert wiedergegeben. Der Zeilenfall wurde nicht übernommen.
  • Worteinfügungen der Herausgeber im edierten Text sowie Ergänzungen einzelner Buchstaben sind dokumentiert.
  • Die Originalseite wird als einzelne Seite in der Internetausgabe wiedergegeben. Von diesem Darstellungsprinzip wird bei langen, sich über mehr als eine Seite erstreckenden Fußnoten abgewichen. Die vollständige Fußnote erscheint in diesem Fall zusammenhängend an der ersten betreffenden Seite.
  • Die textkritischen Nachweise erfolgen in XML-Form nach dem DTABf-Schema: <choice><corr>[Verbesserung]</corr><sic>[Originaltext]</sic></choice> vorgenommen.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0202_1784
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0202_1784/100
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 2. Berlin, 1784, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0202_1784/100>, abgerufen am 20.04.2024.