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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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Wohnung nahm; und neben dem Bauer muss eine zahlreiche
nicht agricole Bevölkerung von Fremden und Einheimischen
dort seit uralter Zeit ansässig gewesen sein. Die dichte Be-
völkerung des römischen Gebietes, das höchstens zu 51/2
Quadratmeilen zum Theil sumpfigen und sandigen Bodens
angeschlagen werden kann und schon nach der ältesten Stadt-
verfassung eine Bürgerwehr von 3300 freien Männern stellte,
also mindestens 10000 freie Einwohner zählte, erklärt sich
auf diese Art einigermassen.

So mag Rom allerdings, wie auch die Sage annimmt,
eher die jüngste Stadt in Latium sein als die älteste; bevor
das Land einigermassen bebaut und das albanische Gebirg so
wie manche andere Höhe der Campagna mit Burgen bedeckt
war, konnte eine derartige Anlage nicht entstehen. Wie sie
entstanden ist: ob durch Beschluss der latinischen Eidgenos-
senschaft, ob durch den genialen Blick eines verschollenen
Städtegründers, ob durch die natürliche Entwicklung des Ver-
kehrs -- wer wagt das zu bestimmen? Dass die Aera, die
von der Gründung der Stadt datirt, von einem willkürlich
fixirten Jahre ausgeht so gut wie die, die von Erschaffung
der Welt an rechnet, ist anerkannt; aber es muss nicht min-
der zugestanden werden, dass auch von dem Jahre abgesehen
die Stadtgründung selbst keineswegs als Anfangspunct der rö-
mischen Geschichte gelten kann. Rom ist nicht an einem
Tage gebaut worden. Die Sage zwar bringt die Anlage des
ersten Mauerringes in Zusammenhang mit der Entstehung der
römischen Gemeinde; allein die Geschichte muss es als mög-
lich, ja als wahrscheinlich bezeichnen, dass bevor die Mauern
auf dem Capitol und dem Palatin entstanden, schon eine
römische Gemeinde existirte, und dass ein Theil der Ge-
schlechtergaue der römischen Mark auf diesen Hügeln ihre
Heiligthümer und Zufluchtsstätten lange Zeit fanden, ehe die
Schifffahrt und die Grenzvertheidigung diesen Platz für Latium
wichtig machten. Eine Ueberlieferung aus diesen urältesten
Zeiten mag das ,Wolssfest' sein, das das Geschlecht der Fabier
am palatinischen Hügel beging *; ein Bauern- und Hirten-
fest, das wie kein anderes die schlichten Spässe patriarcha-
lischer Einfalt bewahrt und merkwürdig genug unter allen

* Die Quinctilier, die mit ihnen genannt werden, müssen, da sie albi-
scher Herkunft sind, nach Albas Zerstörung hinzugetreten sein so gut wie
viel später die Iulier.
Röm. Gesch. I. 3

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Wohnung nahm; und neben dem Bauer muſs eine zahlreiche
nicht agricole Bevölkerung von Fremden und Einheimischen
dort seit uralter Zeit ansässig gewesen sein. Die dichte Be-
völkerung des römischen Gebietes, das höchstens zu 5½
Quadratmeilen zum Theil sumpfigen und sandigen Bodens
angeschlagen werden kann und schon nach der ältesten Stadt-
verfassung eine Bürgerwehr von 3300 freien Männern stellte,
also mindestens 10000 freie Einwohner zählte, erklärt sich
auf diese Art einigermaſsen.

So mag Rom allerdings, wie auch die Sage annimmt,
eher die jüngste Stadt in Latium sein als die älteste; bevor
das Land einigermaſsen bebaut und das albanische Gebirg so
wie manche andere Höhe der Campagna mit Burgen bedeckt
war, konnte eine derartige Anlage nicht entstehen. Wie sie
entstanden ist: ob durch Beschluſs der latinischen Eidgenos-
senschaft, ob durch den genialen Blick eines verschollenen
Städtegründers, ob durch die natürliche Entwicklung des Ver-
kehrs — wer wagt das zu bestimmen? Daſs die Aera, die
von der Gründung der Stadt datirt, von einem willkürlich
fixirten Jahre ausgeht so gut wie die, die von Erschaffung
der Welt an rechnet, ist anerkannt; aber es muſs nicht min-
der zugestanden werden, daſs auch von dem Jahre abgesehen
die Stadtgründung selbst keineswegs als Anfangspunct der rö-
mischen Geschichte gelten kann. Rom ist nicht an einem
Tage gebaut worden. Die Sage zwar bringt die Anlage des
ersten Mauerringes in Zusammenhang mit der Entstehung der
römischen Gemeinde; allein die Geschichte muſs es als mög-
lich, ja als wahrscheinlich bezeichnen, daſs bevor die Mauern
auf dem Capitol und dem Palatin entstanden, schon eine
römische Gemeinde existirte, und daſs ein Theil der Ge-
schlechtergaue der römischen Mark auf diesen Hügeln ihre
Heiligthümer und Zufluchtsstätten lange Zeit fanden, ehe die
Schifffahrt und die Grenzvertheidigung diesen Platz für Latium
wichtig machten. Eine Ueberlieferung aus diesen urältesten
Zeiten mag das ‚Wolſsfest‘ sein, das das Geschlecht der Fabier
am palatinischen Hügel beging *; ein Bauern- und Hirten-
fest, das wie kein anderes die schlichten Späſse patriarcha-
lischer Einfalt bewahrt und merkwürdig genug unter allen

* Die Quinctilier, die mit ihnen genannt werden, müssen, da sie albi-
scher Herkunft sind, nach Albas Zerstörung hinzugetreten sein so gut wie
viel später die Iulier.
Röm. Gesch. I. 3
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[33/0047] ANFAENGE ROMS. Wohnung nahm; und neben dem Bauer muſs eine zahlreiche nicht agricole Bevölkerung von Fremden und Einheimischen dort seit uralter Zeit ansässig gewesen sein. Die dichte Be- völkerung des römischen Gebietes, das höchstens zu 5½ Quadratmeilen zum Theil sumpfigen und sandigen Bodens angeschlagen werden kann und schon nach der ältesten Stadt- verfassung eine Bürgerwehr von 3300 freien Männern stellte, also mindestens 10000 freie Einwohner zählte, erklärt sich auf diese Art einigermaſsen. So mag Rom allerdings, wie auch die Sage annimmt, eher die jüngste Stadt in Latium sein als die älteste; bevor das Land einigermaſsen bebaut und das albanische Gebirg so wie manche andere Höhe der Campagna mit Burgen bedeckt war, konnte eine derartige Anlage nicht entstehen. Wie sie entstanden ist: ob durch Beschluſs der latinischen Eidgenos- senschaft, ob durch den genialen Blick eines verschollenen Städtegründers, ob durch die natürliche Entwicklung des Ver- kehrs — wer wagt das zu bestimmen? Daſs die Aera, die von der Gründung der Stadt datirt, von einem willkürlich fixirten Jahre ausgeht so gut wie die, die von Erschaffung der Welt an rechnet, ist anerkannt; aber es muſs nicht min- der zugestanden werden, daſs auch von dem Jahre abgesehen die Stadtgründung selbst keineswegs als Anfangspunct der rö- mischen Geschichte gelten kann. Rom ist nicht an einem Tage gebaut worden. Die Sage zwar bringt die Anlage des ersten Mauerringes in Zusammenhang mit der Entstehung der römischen Gemeinde; allein die Geschichte muſs es als mög- lich, ja als wahrscheinlich bezeichnen, daſs bevor die Mauern auf dem Capitol und dem Palatin entstanden, schon eine römische Gemeinde existirte, und daſs ein Theil der Ge- schlechtergaue der römischen Mark auf diesen Hügeln ihre Heiligthümer und Zufluchtsstätten lange Zeit fanden, ehe die Schifffahrt und die Grenzvertheidigung diesen Platz für Latium wichtig machten. Eine Ueberlieferung aus diesen urältesten Zeiten mag das ‚Wolſsfest‘ sein, das das Geschlecht der Fabier am palatinischen Hügel beging *; ein Bauern- und Hirten- fest, das wie kein anderes die schlichten Späſse patriarcha- lischer Einfalt bewahrt und merkwürdig genug unter allen * Die Quinctilier, die mit ihnen genannt werden, müssen, da sie albi- scher Herkunft sind, nach Albas Zerstörung hinzugetreten sein so gut wie viel später die Iulier. Röm. Gesch. I. 3

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/47>, abgerufen am 19.04.2024.