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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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ANSIEDLUNGEN DER LATINER.
Albanerbergen und dem Meer, ein Gebiet von etwa 34 deut-
schen Quadratmeilen, wenig grösser als der jetzige Canton
Zürich, ist das eigentliche Latium, die ,breite Ebene' *, wie sie
von den Höhen des Monte Cavo dem Auge sich darstellt. Die
Landschaft ist eben, aber nicht flach; mit Ausnahme des san-
digen und zum Theil von der Tiber aufgeschwemmten Meeres-
strandes wird die Fläche unterbrochen durch mässig hohe oft
ziemlich steile Tuffhügel und tiefe Erdspalten und stets wech-
selnde Steigungen und Senkungen des Bodens, zwischen denen
sich im Winter jene Lachen bilden, deren Verdunsten in der
Sommerhitze, namentlich wegen der darin faulenden organi-
schen Substanzen, die böse fieberschwangere Luft entwickelt,
welche in alter wie in neuer Zeit im Sommer die Landschaft
verpestet. Es ist ein Irrthum, dass diese Miasmen erst durch
den Verfall des Ackerbaus entstanden seien, wie ihn das Miss-
regiment des letzten Jahrhunderts der Republik und das heu-
tige erzeugt haben; ihre Ursache liegt vielmehr in dem man-
gelnden Gefäll des Wassers und wirkt noch heute wie vor
Jahrtausenden. Wahr ist es indess, obwohl noch nicht voll-
ständig erklärt, dass bis auf einen gewissen Grad die böse
Luft sich bannen lässt durch die Intensität der Bodencultur;
wovon zum Theil die Ursache darin liegen wird, dass die
Bearbeitung der Oberfläche das Austrocknen der stehenden
Wässer beschleunigt. Immer bleibt die Entstehung einer dich-
ten ackerbauenden Bevölkerung in Gegenden, die jetzt keine
gesunde Bevölkerung gedeihen lassen und in denen der Rei-
sende nicht gern die Nacht verweilt, wie die latinische Ebene
und die Niederungen von Sybaris und Metapont sind, eine für
uns befremdliche Thatsache; man muss sich erinnern, dass
auf einer niedrigeren Culturstufe das Volk überhaupt einen
schärferen Blick hat für das, was die Natur erheischt, und eine
grössere Fügsamkeit gegen ihre Gebote, vielleicht auch physisch
eine elastischere Natur, die dem Boden sich innig anschmiegt.
In Sardinien wird unter ganz ähnlichen physischen Verhält-
nissen der Ackerbau noch heut zu Tage betrieben; die böse
Luft ist wohl vorhanden, allein der Bauer entzieht sich ihren
Einflüssen durch Vorsicht in Kleidung, Nahrung und Wahl
der Tagesstunden. In der That schützt vor der Aria cattiva
nichts so sicher als das Tragen der Thiervliesse und das

* Latium doch wohl von derselben Wurzel wie platus latus (Seite);
auch l+/-tus (breit) ist verwandt.

ANSIEDLUNGEN DER LATINER.
Albanerbergen und dem Meer, ein Gebiet von etwa 34 deut-
schen Quadratmeilen, wenig gröſser als der jetzige Canton
Zürich, ist das eigentliche Latium, die ‚breite Ebene‘ *, wie sie
von den Höhen des Monte Cavo dem Auge sich darstellt. Die
Landschaft ist eben, aber nicht flach; mit Ausnahme des san-
digen und zum Theil von der Tiber aufgeschwemmten Meeres-
strandes wird die Fläche unterbrochen durch mäſsig hohe oft
ziemlich steile Tuffhügel und tiefe Erdspalten und stets wech-
selnde Steigungen und Senkungen des Bodens, zwischen denen
sich im Winter jene Lachen bilden, deren Verdunsten in der
Sommerhitze, namentlich wegen der darin faulenden organi-
schen Substanzen, die böse fieberschwangere Luft entwickelt,
welche in alter wie in neuer Zeit im Sommer die Landschaft
verpestet. Es ist ein Irrthum, daſs diese Miasmen erst durch
den Verfall des Ackerbaus entstanden seien, wie ihn das Miſs-
regiment des letzten Jahrhunderts der Republik und das heu-
tige erzeugt haben; ihre Ursache liegt vielmehr in dem man-
gelnden Gefäll des Wassers und wirkt noch heute wie vor
Jahrtausenden. Wahr ist es indeſs, obwohl noch nicht voll-
ständig erklärt, daſs bis auf einen gewissen Grad die böse
Luft sich bannen läſst durch die Intensität der Bodencultur;
wovon zum Theil die Ursache darin liegen wird, daſs die
Bearbeitung der Oberfläche das Austrocknen der stehenden
Wässer beschleunigt. Immer bleibt die Entstehung einer dich-
ten ackerbauenden Bevölkerung in Gegenden, die jetzt keine
gesunde Bevölkerung gedeihen lassen und in denen der Rei-
sende nicht gern die Nacht verweilt, wie die latinische Ebene
und die Niederungen von Sybaris und Metapont sind, eine für
uns befremdliche Thatsache; man muſs sich erinnern, daſs
auf einer niedrigeren Culturstufe das Volk überhaupt einen
schärferen Blick hat für das, was die Natur erheischt, und eine
gröſsere Fügsamkeit gegen ihre Gebote, vielleicht auch physisch
eine elastischere Natur, die dem Boden sich innig anschmiegt.
In Sardinien wird unter ganz ähnlichen physischen Verhält-
nissen der Ackerbau noch heut zu Tage betrieben; die böse
Luft ist wohl vorhanden, allein der Bauer entzieht sich ihren
Einflüssen durch Vorsicht in Kleidung, Nahrung und Wahl
der Tagesstunden. In der That schützt vor der Aria cattiva
nichts so sicher als das Tragen der Thiervlieſse und das

* Lᾰtium doch wohl von derselben Wurzel wie πλατύς lᾰtus (Seite);
auch l±tus (breit) ist verwandt.
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[25/0039] ANSIEDLUNGEN DER LATINER. Albanerbergen und dem Meer, ein Gebiet von etwa 34 deut- schen Quadratmeilen, wenig gröſser als der jetzige Canton Zürich, ist das eigentliche Latium, die ‚breite Ebene‘ *, wie sie von den Höhen des Monte Cavo dem Auge sich darstellt. Die Landschaft ist eben, aber nicht flach; mit Ausnahme des san- digen und zum Theil von der Tiber aufgeschwemmten Meeres- strandes wird die Fläche unterbrochen durch mäſsig hohe oft ziemlich steile Tuffhügel und tiefe Erdspalten und stets wech- selnde Steigungen und Senkungen des Bodens, zwischen denen sich im Winter jene Lachen bilden, deren Verdunsten in der Sommerhitze, namentlich wegen der darin faulenden organi- schen Substanzen, die böse fieberschwangere Luft entwickelt, welche in alter wie in neuer Zeit im Sommer die Landschaft verpestet. Es ist ein Irrthum, daſs diese Miasmen erst durch den Verfall des Ackerbaus entstanden seien, wie ihn das Miſs- regiment des letzten Jahrhunderts der Republik und das heu- tige erzeugt haben; ihre Ursache liegt vielmehr in dem man- gelnden Gefäll des Wassers und wirkt noch heute wie vor Jahrtausenden. Wahr ist es indeſs, obwohl noch nicht voll- ständig erklärt, daſs bis auf einen gewissen Grad die böse Luft sich bannen läſst durch die Intensität der Bodencultur; wovon zum Theil die Ursache darin liegen wird, daſs die Bearbeitung der Oberfläche das Austrocknen der stehenden Wässer beschleunigt. Immer bleibt die Entstehung einer dich- ten ackerbauenden Bevölkerung in Gegenden, die jetzt keine gesunde Bevölkerung gedeihen lassen und in denen der Rei- sende nicht gern die Nacht verweilt, wie die latinische Ebene und die Niederungen von Sybaris und Metapont sind, eine für uns befremdliche Thatsache; man muſs sich erinnern, daſs auf einer niedrigeren Culturstufe das Volk überhaupt einen schärferen Blick hat für das, was die Natur erheischt, und eine gröſsere Fügsamkeit gegen ihre Gebote, vielleicht auch physisch eine elastischere Natur, die dem Boden sich innig anschmiegt. In Sardinien wird unter ganz ähnlichen physischen Verhält- nissen der Ackerbau noch heut zu Tage betrieben; die böse Luft ist wohl vorhanden, allein der Bauer entzieht sich ihren Einflüssen durch Vorsicht in Kleidung, Nahrung und Wahl der Tagesstunden. In der That schützt vor der Aria cattiva nichts so sicher als das Tragen der Thiervlieſse und das * Lᾰtium doch wohl von derselben Wurzel wie πλατύς lᾰtus (Seite); auch l±tus (breit) ist verwandt.

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/39>, abgerufen am 28.03.2024.