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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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ERSTES BUCH. KAPITEL II.
viele Lösungen zu als es Provinzen giebt in unsers Vaters
Reich; und auf diesem Gebiet ist es, nicht auf dem materiel-
len, wo die Charaktere der Individuen und der Völker sich
scheiden, und wo auch zwischen Hellenen und Italikern jene
tiefe innerliche Differenz sich offenbart, deren Nachwirkung
noch bis auf den heutigen Tag sich fortsetzt. Familie und Staat,
Kunst und Religion sind von beiden Völkern so eigenthüm-
lich, so durchaus national entwickelt worden, dass die gemein-
schaftliche Grundlage, auf der auch hier beide Völker fussten,
dort und hier überwuchert und unsern Augen fast ganz ent-
zogen ist. Jenes hellenische Wesen, das den Staat dem Men-
schen, dem Einzelnen das Ganze aufopfert, dessen politische
Entwicklung besteht in einer Lösung erst der nationalen
Einheit, dann sogar der Gewalt der Gemeinde, dessen reli-
giöse Anschauung erst die Götter zu Menschen machte und
dann die Götter leugnete, das die Glieder entfesselte in dem
Spiel der nackten Knaben und die Gedanken freigab; und jenes
römische Wesen, das den Sohn in die Furcht des Vaters, die
Bürger in die Furcht des Herrschers, sie alle in die Furcht
der Götter bannte, das die keusche Verhüllung des Körpers
schon dem Buben zur Pflicht machte, in dem wer anders
sein wollte als die Genossen ein schlechter Bürger hiess, in
dem der Staat alles war und die Erweiterung des Staates der
einzige nicht verpönte hohe Gedanke -- wer vermag diese
scharfen Gegensätze in Gedanken zurückzuführen auf die ur-
sprüngliche Einheit, die sie beide umschloss und beide vor-
bereitete und erzeugte? Es wäre thörichte Vermessenheit,
diesen Schleier lüften zu wollen; nur mit wenigen Andeu-
tungen soll es versucht werden die Anfänge der italischen
Nationalität und ihre Anknüpfung an eine ältere Periode zu
bezeichnen, um den Ahnungen des einsichtigen Lesers nicht
Worte zu leihen, aber die Richtung zu weisen.

Alles was man das patriarchalische Element im Staate nen-
nen kann, ruht in Griechenland wie in Italien auf denselben
Fundamenten. Vor allen Dingen gehört hierher die sittliche und
ehrbare Gestaltung des geschlechtlichen Lebens, welche dem
Manne die Monogamie gebietet und den Ehebruch der Frau
schwer ahndet; und welche in der hohen Stellung der Mutter
innerhalb des häuslichen Kreises die Ebenbürtigkeit beider
Geschlechter und die Heiligkeit der Ehe anerkennt. Dagegen
ist die schroffe und gegen die Persönlichkeit rücksichtlose
Entwicklung der eheherrlichen und mehr noch der väter-

ERSTES BUCH. KAPITEL II.
viele Lösungen zu als es Provinzen giebt in unsers Vaters
Reich; und auf diesem Gebiet ist es, nicht auf dem materiel-
len, wo die Charaktere der Individuen und der Völker sich
scheiden, und wo auch zwischen Hellenen und Italikern jene
tiefe innerliche Differenz sich offenbart, deren Nachwirkung
noch bis auf den heutigen Tag sich fortsetzt. Familie und Staat,
Kunst und Religion sind von beiden Völkern so eigenthüm-
lich, so durchaus national entwickelt worden, daſs die gemein-
schaftliche Grundlage, auf der auch hier beide Völker fuſsten,
dort und hier überwuchert und unsern Augen fast ganz ent-
zogen ist. Jenes hellenische Wesen, das den Staat dem Men-
schen, dem Einzelnen das Ganze aufopfert, dessen politische
Entwicklung besteht in einer Lösung erst der nationalen
Einheit, dann sogar der Gewalt der Gemeinde, dessen reli-
giöse Anschauung erst die Götter zu Menschen machte und
dann die Götter leugnete, das die Glieder entfesselte in dem
Spiel der nackten Knaben und die Gedanken freigab; und jenes
römische Wesen, das den Sohn in die Furcht des Vaters, die
Bürger in die Furcht des Herrschers, sie alle in die Furcht
der Götter bannte, das die keusche Verhüllung des Körpers
schon dem Buben zur Pflicht machte, in dem wer anders
sein wollte als die Genossen ein schlechter Bürger hieſs, in
dem der Staat alles war und die Erweiterung des Staates der
einzige nicht verpönte hohe Gedanke — wer vermag diese
scharfen Gegensätze in Gedanken zurückzuführen auf die ur-
sprüngliche Einheit, die sie beide umschloſs und beide vor-
bereitete und erzeugte? Es wäre thörichte Vermessenheit,
diesen Schleier lüften zu wollen; nur mit wenigen Andeu-
tungen soll es versucht werden die Anfänge der italischen
Nationalität und ihre Anknüpfung an eine ältere Periode zu
bezeichnen, um den Ahnungen des einsichtigen Lesers nicht
Worte zu leihen, aber die Richtung zu weisen.

Alles was man das patriarchalische Element im Staate nen-
nen kann, ruht in Griechenland wie in Italien auf denselben
Fundamenten. Vor allen Dingen gehört hierher die sittliche und
ehrbare Gestaltung des geschlechtlichen Lebens, welche dem
Manne die Monogamie gebietet und den Ehebruch der Frau
schwer ahndet; und welche in der hohen Stellung der Mutter
innerhalb des häuslichen Kreises die Ebenbürtigkeit beider
Geschlechter und die Heiligkeit der Ehe anerkennt. Dagegen
ist die schroffe und gegen die Persönlichkeit rücksichtlose
Entwicklung der eheherrlichen und mehr noch der väter-

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[18/0032] ERSTES BUCH. KAPITEL II. viele Lösungen zu als es Provinzen giebt in unsers Vaters Reich; und auf diesem Gebiet ist es, nicht auf dem materiel- len, wo die Charaktere der Individuen und der Völker sich scheiden, und wo auch zwischen Hellenen und Italikern jene tiefe innerliche Differenz sich offenbart, deren Nachwirkung noch bis auf den heutigen Tag sich fortsetzt. Familie und Staat, Kunst und Religion sind von beiden Völkern so eigenthüm- lich, so durchaus national entwickelt worden, daſs die gemein- schaftliche Grundlage, auf der auch hier beide Völker fuſsten, dort und hier überwuchert und unsern Augen fast ganz ent- zogen ist. Jenes hellenische Wesen, das den Staat dem Men- schen, dem Einzelnen das Ganze aufopfert, dessen politische Entwicklung besteht in einer Lösung erst der nationalen Einheit, dann sogar der Gewalt der Gemeinde, dessen reli- giöse Anschauung erst die Götter zu Menschen machte und dann die Götter leugnete, das die Glieder entfesselte in dem Spiel der nackten Knaben und die Gedanken freigab; und jenes römische Wesen, das den Sohn in die Furcht des Vaters, die Bürger in die Furcht des Herrschers, sie alle in die Furcht der Götter bannte, das die keusche Verhüllung des Körpers schon dem Buben zur Pflicht machte, in dem wer anders sein wollte als die Genossen ein schlechter Bürger hieſs, in dem der Staat alles war und die Erweiterung des Staates der einzige nicht verpönte hohe Gedanke — wer vermag diese scharfen Gegensätze in Gedanken zurückzuführen auf die ur- sprüngliche Einheit, die sie beide umschloſs und beide vor- bereitete und erzeugte? Es wäre thörichte Vermessenheit, diesen Schleier lüften zu wollen; nur mit wenigen Andeu- tungen soll es versucht werden die Anfänge der italischen Nationalität und ihre Anknüpfung an eine ältere Periode zu bezeichnen, um den Ahnungen des einsichtigen Lesers nicht Worte zu leihen, aber die Richtung zu weisen. Alles was man das patriarchalische Element im Staate nen- nen kann, ruht in Griechenland wie in Italien auf denselben Fundamenten. Vor allen Dingen gehört hierher die sittliche und ehrbare Gestaltung des geschlechtlichen Lebens, welche dem Manne die Monogamie gebietet und den Ehebruch der Frau schwer ahndet; und welche in der hohen Stellung der Mutter innerhalb des häuslichen Kreises die Ebenbürtigkeit beider Geschlechter und die Heiligkeit der Ehe anerkennt. Dagegen ist die schroffe und gegen die Persönlichkeit rücksichtlose Entwicklung der eheherrlichen und mehr noch der väter-

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/32>, abgerufen am 28.03.2024.