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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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Diese gemeinschaftlichen Zustände und Organismen werden
gesellschaftliche genannt; die Gesammtheit derselben in
einem bestimmten Lande ist die Gesellschaft 1).

Die Zahl dieser gesellschaftlichen Kreise ist weder an sich
und überhaupt, noch für ein concretes Land von vorne herein
feststellbar, sondern sie wird durch das thatsächliche Vorhanden-
sein der maaßgebenden Interessen bei einem concreten Volke
und zu bestimmter Zeit geordnet. Wo Interessen groß und
bleibend sind, dienen sie zum Kerne gesellschaftlicher Kreise;
aber auch nur dann. Unbedeutende Verhältnisse vermögen näm-
lich keine hinreichende Anziehungskraft und keine Nöthigung zu
einem für Alle wirkenden Organismus zu üben; und blos
vorübergehende wenngleich große Interessen können keine dauern-
den Gestaltungen hinterlassen. Natürlich ist hierbei sehr Vieles
subjectiv; und es kann ein Verhältniß zu einer Zeit oder bei
einem Volke von der größten gemeinschaftlichen Wichtigkeit er-
scheinen, während es bei anderen Menschen und auf anders
gesittigten Stufen wenig beachtet wird. Nichts ist daher unter
sich abweichender, als der gesellschaftliche Zustand verschiedener
Völkerschaften und selbst desselben Volkes zu verschiedenen Zeiten.
-- Bei Völkern der Neuzeit und von europäischer Gesittigung
sind übrigens erfahrungsgemäß folgende 2) Interessen auch
Mittelpunkte gesellschaftlicher Kreise:

1. Die Gemeinschaft der Nationalität und der
Sprache
. Wenn verschiedene Stämme oder gar Racen einem
größern, sei es geographischen sei es politischen, Ganzen ange-
hören, tritt unter den zusammengezwängten leicht eine Zu-
sammenschaarung der Nächstverwandten und ein Gegensatz der
Einen gegen die Andern ein; und es ist dies von um so größerer
Bedeutung, als gewöhnlich auch noch Religions-, Stände-, und
Besitzverhältnisse mit ins Spiel kommen. Daher denn Abson-
derung im Raume, oder wenigstens im Umgange; verschiedene

Dieſe gemeinſchaftlichen Zuſtände und Organismen werden
geſellſchaftliche genannt; die Geſammtheit derſelben in
einem beſtimmten Lande iſt die Geſellſchaft 1).

Die Zahl dieſer geſellſchaftlichen Kreiſe iſt weder an ſich
und überhaupt, noch für ein concretes Land von vorne herein
feſtſtellbar, ſondern ſie wird durch das thatſächliche Vorhanden-
ſein der maaßgebenden Intereſſen bei einem concreten Volke
und zu beſtimmter Zeit geordnet. Wo Intereſſen groß und
bleibend ſind, dienen ſie zum Kerne geſellſchaftlicher Kreiſe;
aber auch nur dann. Unbedeutende Verhältniſſe vermögen näm-
lich keine hinreichende Anziehungskraft und keine Nöthigung zu
einem für Alle wirkenden Organismus zu üben; und blos
vorübergehende wenngleich große Intereſſen können keine dauern-
den Geſtaltungen hinterlaſſen. Natürlich iſt hierbei ſehr Vieles
ſubjectiv; und es kann ein Verhältniß zu einer Zeit oder bei
einem Volke von der größten gemeinſchaftlichen Wichtigkeit er-
ſcheinen, während es bei anderen Menſchen und auf anders
geſittigten Stufen wenig beachtet wird. Nichts iſt daher unter
ſich abweichender, als der geſellſchaftliche Zuſtand verſchiedener
Völkerſchaften und ſelbſt deſſelben Volkes zu verſchiedenen Zeiten.
— Bei Völkern der Neuzeit und von europäiſcher Geſittigung
ſind übrigens erfahrungsgemäß folgende 2) Intereſſen auch
Mittelpunkte geſellſchaftlicher Kreiſe:

1. Die Gemeinſchaft der Nationalität und der
Sprache
. Wenn verſchiedene Stämme oder gar Racen einem
größern, ſei es geographiſchen ſei es politiſchen, Ganzen ange-
hören, tritt unter den zuſammengezwängten leicht eine Zu-
ſammenſchaarung der Nächſtverwandten und ein Gegenſatz der
Einen gegen die Andern ein; und es iſt dies von um ſo größerer
Bedeutung, als gewöhnlich auch noch Religions-, Stände-, und
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[20/0034] Dieſe gemeinſchaftlichen Zuſtände und Organismen werden geſellſchaftliche genannt; die Geſammtheit derſelben in einem beſtimmten Lande iſt die Geſellſchaft 1). Die Zahl dieſer geſellſchaftlichen Kreiſe iſt weder an ſich und überhaupt, noch für ein concretes Land von vorne herein feſtſtellbar, ſondern ſie wird durch das thatſächliche Vorhanden- ſein der maaßgebenden Intereſſen bei einem concreten Volke und zu beſtimmter Zeit geordnet. Wo Intereſſen groß und bleibend ſind, dienen ſie zum Kerne geſellſchaftlicher Kreiſe; aber auch nur dann. Unbedeutende Verhältniſſe vermögen näm- lich keine hinreichende Anziehungskraft und keine Nöthigung zu einem für Alle wirkenden Organismus zu üben; und blos vorübergehende wenngleich große Intereſſen können keine dauern- den Geſtaltungen hinterlaſſen. Natürlich iſt hierbei ſehr Vieles ſubjectiv; und es kann ein Verhältniß zu einer Zeit oder bei einem Volke von der größten gemeinſchaftlichen Wichtigkeit er- ſcheinen, während es bei anderen Menſchen und auf anders geſittigten Stufen wenig beachtet wird. Nichts iſt daher unter ſich abweichender, als der geſellſchaftliche Zuſtand verſchiedener Völkerſchaften und ſelbſt deſſelben Volkes zu verſchiedenen Zeiten. — Bei Völkern der Neuzeit und von europäiſcher Geſittigung ſind übrigens erfahrungsgemäß folgende 2) Intereſſen auch Mittelpunkte geſellſchaftlicher Kreiſe: 1. Die Gemeinſchaft der Nationalität und der Sprache. Wenn verſchiedene Stämme oder gar Racen einem größern, ſei es geographiſchen ſei es politiſchen, Ganzen ange- hören, tritt unter den zuſammengezwängten leicht eine Zu- ſammenſchaarung der Nächſtverwandten und ein Gegenſatz der Einen gegen die Andern ein; und es iſt dies von um ſo größerer Bedeutung, als gewöhnlich auch noch Religions-, Stände-, und Beſitzverhältniſſe mit ins Spiel kommen. Daher denn Abſon- derung im Raume, oder wenigſtens im Umgange; verſchiedene

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/34>, abgerufen am 28.03.2024.