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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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um so fester, welches die natürliche Verwandtschaft und die ge-
schichtliche Ueberlieferung zuerst schlingt. Je schärfer aber sich
diese Eigenthümlichkeiten ausprägen, im Gegensatze mit anderen
Stammesgenossenschaften, mit welchen eine Berührung stattfindet,
desto inniger wird das Zusammenhalten der Verwandten und
desto schroffer und leicht feindseliger die Trennung von den
Fremden. Auf diese Weise bilden verwandte Stämme, d. h.
solche, welche sämmtlich Sprossen aus einer weit tiefer liegenden,
vielleicht geschichtlich nicht einmal mehr nachweisbaren Wurzel
sind, ein mehr oder weniger festes Ganzes, während der einzelne
dieser Stämme immerhin wieder seine Eigenthümlichkeiten
und seine eigenen Interessen hat und bewahrt 2). Die Wahl-
verwandtschaft ist namentlich dann besonders groß, wenn Ein
gemeinschaftlicher religiöser Glauben geblieben ist.

Durch das Zusammensein der Stammverwandten wird
ein höheres Gesammtleben erzeugt, welches theils die Erreichung
einzelner gemeinschaftlicher Interessen mit gemeinschaftlichen
Kräften möglich macht, theils eine neue erweiterte Idee der
menschlichen Verhältnisse erzeugt. Dieses Verhältniß ist kein mit
Freiheit und Bewußtsein gebildetes, sondern ein naturwüchsiges
im eigentlichen Sinne des Wortes; daher denn auch die Grund-
lage keine rechtliche, sondern eine geschichtliche, und vielleicht
eine sittliche und religiöse. Das durch den Stamm entstehende
Gesammtleben ist keineswegs nothwendig ein organisirtes, sondern
zunächst ein psychologisches und physiologisches. Ein Stamm
mag sich vollkommen als ein Gemeinschaftliches fühlen und
wissen, ohne jemals eine alle Genossen umfassende gemeinschaft-
liche Einrichtung gehabt zu haben. Die hauptsächlichste und
beste Folge der Gruppirung zu Stämmen bestet darin, daß die
Eigenthümlichkeiten der Race intensiv gesteigert, ausgebildet und
befestigt werden. Hiedurch entwickelt sich aber die Verschiedenheit
in der Einheit des Menschengeschlechts und wird die Erreichung

um ſo feſter, welches die natürliche Verwandtſchaft und die ge-
ſchichtliche Ueberlieferung zuerſt ſchlingt. Je ſchärfer aber ſich
dieſe Eigenthümlichkeiten ausprägen, im Gegenſatze mit anderen
Stammesgenoſſenſchaften, mit welchen eine Berührung ſtattfindet,
deſto inniger wird das Zuſammenhalten der Verwandten und
deſto ſchroffer und leicht feindſeliger die Trennung von den
Fremden. Auf dieſe Weiſe bilden verwandte Stämme, d. h.
ſolche, welche ſämmtlich Sproſſen aus einer weit tiefer liegenden,
vielleicht geſchichtlich nicht einmal mehr nachweisbaren Wurzel
ſind, ein mehr oder weniger feſtes Ganzes, während der einzelne
dieſer Stämme immerhin wieder ſeine Eigenthümlichkeiten
und ſeine eigenen Intereſſen hat und bewahrt 2). Die Wahl-
verwandtſchaft iſt namentlich dann beſonders groß, wenn Ein
gemeinſchaftlicher religiöſer Glauben geblieben iſt.

Durch das Zuſammenſein der Stammverwandten wird
ein höheres Geſammtleben erzeugt, welches theils die Erreichung
einzelner gemeinſchaftlicher Intereſſen mit gemeinſchaftlichen
Kräften möglich macht, theils eine neue erweiterte Idee der
menſchlichen Verhältniſſe erzeugt. Dieſes Verhältniß iſt kein mit
Freiheit und Bewußtſein gebildetes, ſondern ein naturwüchſiges
im eigentlichen Sinne des Wortes; daher denn auch die Grund-
lage keine rechtliche, ſondern eine geſchichtliche, und vielleicht
eine ſittliche und religiöſe. Das durch den Stamm entſtehende
Geſammtleben iſt keineswegs nothwendig ein organiſirtes, ſondern
zunächſt ein pſychologiſches und phyſiologiſches. Ein Stamm
mag ſich vollkommen als ein Gemeinſchaftliches fühlen und
wiſſen, ohne jemals eine alle Genoſſen umfaſſende gemeinſchaft-
liche Einrichtung gehabt zu haben. Die hauptſächlichſte und
beſte Folge der Gruppirung zu Stämmen beſtet darin, daß die
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[16/0030] um ſo feſter, welches die natürliche Verwandtſchaft und die ge- ſchichtliche Ueberlieferung zuerſt ſchlingt. Je ſchärfer aber ſich dieſe Eigenthümlichkeiten ausprägen, im Gegenſatze mit anderen Stammesgenoſſenſchaften, mit welchen eine Berührung ſtattfindet, deſto inniger wird das Zuſammenhalten der Verwandten und deſto ſchroffer und leicht feindſeliger die Trennung von den Fremden. Auf dieſe Weiſe bilden verwandte Stämme, d. h. ſolche, welche ſämmtlich Sproſſen aus einer weit tiefer liegenden, vielleicht geſchichtlich nicht einmal mehr nachweisbaren Wurzel ſind, ein mehr oder weniger feſtes Ganzes, während der einzelne dieſer Stämme immerhin wieder ſeine Eigenthümlichkeiten und ſeine eigenen Intereſſen hat und bewahrt 2). Die Wahl- verwandtſchaft iſt namentlich dann beſonders groß, wenn Ein gemeinſchaftlicher religiöſer Glauben geblieben iſt. Durch das Zuſammenſein der Stammverwandten wird ein höheres Geſammtleben erzeugt, welches theils die Erreichung einzelner gemeinſchaftlicher Intereſſen mit gemeinſchaftlichen Kräften möglich macht, theils eine neue erweiterte Idee der menſchlichen Verhältniſſe erzeugt. Dieſes Verhältniß iſt kein mit Freiheit und Bewußtſein gebildetes, ſondern ein naturwüchſiges im eigentlichen Sinne des Wortes; daher denn auch die Grund- lage keine rechtliche, ſondern eine geſchichtliche, und vielleicht eine ſittliche und religiöſe. Das durch den Stamm entſtehende Geſammtleben iſt keineswegs nothwendig ein organiſirtes, ſondern zunächſt ein pſychologiſches und phyſiologiſches. Ein Stamm mag ſich vollkommen als ein Gemeinſchaftliches fühlen und wiſſen, ohne jemals eine alle Genoſſen umfaſſende gemeinſchaft- liche Einrichtung gehabt zu haben. Die hauptſächlichſte und beſte Folge der Gruppirung zu Stämmen beſtet darin, daß die Eigenthümlichkeiten der Race intenſiv geſteigert, ausgebildet und befeſtigt werden. Hiedurch entwickelt ſich aber die Verſchiedenheit in der Einheit des Menſchengeſchlechts und wird die Erreichung

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/30>, abgerufen am 19.04.2024.