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Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 4. Berlin, 1786.

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Von einem Weinhändler.
sendmal eher wissen, was der Knabe im Schilde füh-
ret, als alle diejenigen, so ihn nach den von jenem gro-
sen Meister angegebenen Gründen beurtheilen. Jch
habe mehr Menschengesichter gesehen, als ich Weine ge-
schmecket habe, und die Cindrücke so ich von ihnen be-
halten habe, dienen mir zu so viel Werkzeugen der Men-
schenerkenntniß. Mit allen diesen Werkzeugen berühre
ich den Kerl auf einmal, mein ganzes Gefühl fließt um
seine Form, und ich drücke ihn damit so ab, daß ich
ihn habe wie er da steht, von innen und von aussen; aber
die Gründe davon klar zu denken, sie in einen dünnen
elenden Faden auszuspinnen, und andern mitzutheilen,
das verstehe ich so wenig, daß ich vielmehr glaube, es
sey nicht möglich, und unsre Sprache sey so wenig das
Werkzeug, alle Empfindungen, die wir durch unsre fünf
Sinne erhalten, auszudrücken, als die vier Species das
Mittel sind, unendliche Größen zu berechnen.

Hier gieng nun der Streit von neuem an; ich behaup-
tete, daß einer der des Menschen Gesicht in einem Huy
mit zehntausend, obgleich unerklärbaren Tangenten be-
rührte, richtiger davon urtheilte, als ein andrer, der
immer nur ein einzelnes Fühlhorn ausstrecken, und das-
jenige was er dadurch empfände, deutlich beschreiben
könnte. Und hieraus zog ich sodann die Folge, daß es
nothwendig in allen Arten des Geschmacks zuerst darauf
ankäme, wie viel einer Tangenten hätte, und ob solche
richtig wären?
Dieses bewiese der Jtaliäner, der täg-
lich gute Gebäude und Gemählde schauete, und schöne
Musik hörte; durch die Eindrücke so er davon erhielte,
gelangte er zu vielen und richtigen Tangenten, und es
gienge ihm mit dem Geschmack in der Musik und der
Baukunst wie mir mit dem Weine. Das Vergleichen
und Entscheiden folge von selbst, sobald man vieles kenne,

und

Von einem Weinhaͤndler.
ſendmal eher wiſſen, was der Knabe im Schilde fuͤh-
ret, als alle diejenigen, ſo ihn nach den von jenem gro-
ſen Meiſter angegebenen Gruͤnden beurtheilen. Jch
habe mehr Menſchengeſichter geſehen, als ich Weine ge-
ſchmecket habe, und die Cindruͤcke ſo ich von ihnen be-
halten habe, dienen mir zu ſo viel Werkzeugen der Men-
ſchenerkenntniß. Mit allen dieſen Werkzeugen beruͤhre
ich den Kerl auf einmal, mein ganzes Gefuͤhl fließt um
ſeine Form, und ich druͤcke ihn damit ſo ab, daß ich
ihn habe wie er da ſteht, von innen und von auſſen; aber
die Gruͤnde davon klar zu denken, ſie in einen duͤnnen
elenden Faden auszuſpinnen, und andern mitzutheilen,
das verſtehe ich ſo wenig, daß ich vielmehr glaube, es
ſey nicht moͤglich, und unſre Sprache ſey ſo wenig das
Werkzeug, alle Empfindungen, die wir durch unſre fuͤnf
Sinne erhalten, auszudruͤcken, als die vier Species das
Mittel ſind, unendliche Groͤßen zu berechnen.

Hier gieng nun der Streit von neuem an; ich behaup-
tete, daß einer der des Menſchen Geſicht in einem Huy
mit zehntauſend, obgleich unerklaͤrbaren Tangenten be-
ruͤhrte, richtiger davon urtheilte, als ein andrer, der
immer nur ein einzelnes Fuͤhlhorn ausſtrecken, und das-
jenige was er dadurch empfaͤnde, deutlich beſchreiben
koͤnnte. Und hieraus zog ich ſodann die Folge, daß es
nothwendig in allen Arten des Geſchmacks zuerſt darauf
ankaͤme, wie viel einer Tangenten haͤtte, und ob ſolche
richtig waͤren?
Dieſes bewieſe der Jtaliaͤner, der taͤg-
lich gute Gebaͤude und Gemaͤhlde ſchauete, und ſchoͤne
Muſik hoͤrte; durch die Eindruͤcke ſo er davon erhielte,
gelangte er zu vielen und richtigen Tangenten, und es
gienge ihm mit dem Geſchmack in der Muſik und der
Baukunſt wie mir mit dem Weine. Das Vergleichen
und Entſcheiden folge von ſelbſt, ſobald man vieles kenne,

und
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[11/0023] Von einem Weinhaͤndler. ſendmal eher wiſſen, was der Knabe im Schilde fuͤh- ret, als alle diejenigen, ſo ihn nach den von jenem gro- ſen Meiſter angegebenen Gruͤnden beurtheilen. Jch habe mehr Menſchengeſichter geſehen, als ich Weine ge- ſchmecket habe, und die Cindruͤcke ſo ich von ihnen be- halten habe, dienen mir zu ſo viel Werkzeugen der Men- ſchenerkenntniß. Mit allen dieſen Werkzeugen beruͤhre ich den Kerl auf einmal, mein ganzes Gefuͤhl fließt um ſeine Form, und ich druͤcke ihn damit ſo ab, daß ich ihn habe wie er da ſteht, von innen und von auſſen; aber die Gruͤnde davon klar zu denken, ſie in einen duͤnnen elenden Faden auszuſpinnen, und andern mitzutheilen, das verſtehe ich ſo wenig, daß ich vielmehr glaube, es ſey nicht moͤglich, und unſre Sprache ſey ſo wenig das Werkzeug, alle Empfindungen, die wir durch unſre fuͤnf Sinne erhalten, auszudruͤcken, als die vier Species das Mittel ſind, unendliche Groͤßen zu berechnen. Hier gieng nun der Streit von neuem an; ich behaup- tete, daß einer der des Menſchen Geſicht in einem Huy mit zehntauſend, obgleich unerklaͤrbaren Tangenten be- ruͤhrte, richtiger davon urtheilte, als ein andrer, der immer nur ein einzelnes Fuͤhlhorn ausſtrecken, und das- jenige was er dadurch empfaͤnde, deutlich beſchreiben koͤnnte. Und hieraus zog ich ſodann die Folge, daß es nothwendig in allen Arten des Geſchmacks zuerſt darauf ankaͤme, wie viel einer Tangenten haͤtte, und ob ſolche richtig waͤren? Dieſes bewieſe der Jtaliaͤner, der taͤg- lich gute Gebaͤude und Gemaͤhlde ſchauete, und ſchoͤne Muſik hoͤrte; durch die Eindruͤcke ſo er davon erhielte, gelangte er zu vielen und richtigen Tangenten, und es gienge ihm mit dem Geſchmack in der Muſik und der Baukunſt wie mir mit dem Weine. Das Vergleichen und Entſcheiden folge von ſelbſt, ſobald man vieles kenne, und

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Zitationshilfe: Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 4. Berlin, 1786, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien04_1786/23>, abgerufen am 29.03.2024.