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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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schrieben hatte; worinn er seinem Vater für alle sei-
ne Wohlthaten dankte, und halb Abschied von ihm
nahm. Seine Schwester suchte er zu trösten, ob
er gleich selbst trostlos war. P. Philipp gieng den
Nachmittag mit ihm spatzieren, und flößte ihm
durch seine sanfte liebreiche Lehren, die immer mit
dem zärtlichsten Mitleid untermischt waren, eine
ziemliche Gelassenheit und Ergebung in den göttli-
chen Willen ein. Vorher hatte es in Siegwarts
Seele ungestüm gestürmt, jetzt folgte dem Sturm
ein sanfter Regen, und sein Schmerz goß sich in
Thränen aus. Der Doktor kam den andern Tag
wieder zurück. Siegwart war wohl zehnmal in
seinem Hause gewesen; und nun dachte er gewiß,
sein Vater sey gestorben, oder in den letzten Zügen.
Er beweinte ihn als todt. Sein Schmerz war
unendlich groß, aber doch gemässigter und ruhiger,
wie vorher. Die Angst, ein theures Gut zu verlie-
ren, erschüttert mehr, und schlägt die Seele schreck-
licher danieder, als der wirkliche Verlust des Gutes.
-- Der Doktor war den folgenden Morgen wie-
der in die Stadt gekommen; muste aber nach einer
Stunde gleich wieder fort, eh ihn Siegwart spre-
chen konnte. Er hatte nur die Nachricht für ihn
hinterlassen: Er möchte sich auf alles gefaßt ma-



ſchrieben hatte; worinn er ſeinem Vater fuͤr alle ſei-
ne Wohlthaten dankte, und halb Abſchied von ihm
nahm. Seine Schweſter ſuchte er zu troͤſten, ob
er gleich ſelbſt troſtlos war. P. Philipp gieng den
Nachmittag mit ihm ſpatzieren, und floͤßte ihm
durch ſeine ſanfte liebreiche Lehren, die immer mit
dem zaͤrtlichſten Mitleid untermiſcht waren, eine
ziemliche Gelaſſenheit und Ergebung in den goͤttli-
chen Willen ein. Vorher hatte es in Siegwarts
Seele ungeſtuͤm geſtuͤrmt, jetzt folgte dem Sturm
ein ſanfter Regen, und ſein Schmerz goß ſich in
Thraͤnen aus. Der Doktor kam den andern Tag
wieder zuruͤck. Siegwart war wohl zehnmal in
ſeinem Hauſe geweſen; und nun dachte er gewiß,
ſein Vater ſey geſtorben, oder in den letzten Zuͤgen.
Er beweinte ihn als todt. Sein Schmerz war
unendlich groß, aber doch gemaͤſſigter und ruhiger,
wie vorher. Die Angſt, ein theures Gut zu verlie-
ren, erſchuͤttert mehr, und ſchlaͤgt die Seele ſchreck-
licher danieder, als der wirkliche Verluſt des Gutes.
— Der Doktor war den folgenden Morgen wie-
der in die Stadt gekommen; muſte aber nach einer
Stunde gleich wieder fort, eh ihn Siegwart ſpre-
chen konnte. Er hatte nur die Nachricht fuͤr ihn
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[507/0087] ſchrieben hatte; worinn er ſeinem Vater fuͤr alle ſei- ne Wohlthaten dankte, und halb Abſchied von ihm nahm. Seine Schweſter ſuchte er zu troͤſten, ob er gleich ſelbſt troſtlos war. P. Philipp gieng den Nachmittag mit ihm ſpatzieren, und floͤßte ihm durch ſeine ſanfte liebreiche Lehren, die immer mit dem zaͤrtlichſten Mitleid untermiſcht waren, eine ziemliche Gelaſſenheit und Ergebung in den goͤttli- chen Willen ein. Vorher hatte es in Siegwarts Seele ungeſtuͤm geſtuͤrmt, jetzt folgte dem Sturm ein ſanfter Regen, und ſein Schmerz goß ſich in Thraͤnen aus. Der Doktor kam den andern Tag wieder zuruͤck. Siegwart war wohl zehnmal in ſeinem Hauſe geweſen; und nun dachte er gewiß, ſein Vater ſey geſtorben, oder in den letzten Zuͤgen. Er beweinte ihn als todt. Sein Schmerz war unendlich groß, aber doch gemaͤſſigter und ruhiger, wie vorher. Die Angſt, ein theures Gut zu verlie- ren, erſchuͤttert mehr, und ſchlaͤgt die Seele ſchreck- licher danieder, als der wirkliche Verluſt des Gutes. — Der Doktor war den folgenden Morgen wie- der in die Stadt gekommen; muſte aber nach einer Stunde gleich wieder fort, eh ihn Siegwart ſpre- chen konnte. Er hatte nur die Nachricht fuͤr ihn hinterlaſſen: Er moͤchte ſich auf alles gefaßt ma-

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 507. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/87>, abgerufen am 24.04.2024.