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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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ten. -- Siegwart verschloß sich nun auf sein Zim-
mer; gieng auf und ab; rang die Hände; fieng zu-
weilen ein Gebeth an; ward vom Schmerz wieder
vom Gebeth ab, in Labyrinthe hineingerissen, wo
er keinen Ausweg sah; nahm ein Buch; wollte le-
sen; warf es wieder weg; sank auf die Knie; sprang
wieder auf, und fand nirgends keine Ruhe. Er
gieng in den kleinen Garten am Kloster; da erblick-
te er eine hohe Sonnenrose, die von einem Wurm
angefressen war, und zu welken anfieng. Gott! rief
er, und Thränen schossen ihm in die Augen; denn
er dachte sich seinen Vater. Alles erinnerte ihn jetzt
an den Tod; jede Blume ward für ihn ein Bild
der Verwesung. -- Zuweilen dachte er sich alles
Gute, was er seinem Vater zu verdanken hatte,
und nun schauerte er zurück, und wollte vergehen.
-- Die ganze Nacht ward von ihm durchweint;
seine kurzen Schlummer waren ängstlich; oft war
ihms, als ob sein Vater ihm zulispelte und Abschied
nähme, und dann fuhr er auf und ächzte. -- Den
andern Tag war er wie betäubt; er gieng noch ein-
mal zum Doktor, und bat ihn, ja gewiß zu seinem
Vater hinaus zu reiten. Er gab ihm ein kleines
Briefchen mit an seinen Vater, und ein kleines an
Theresen, das er mit der heftigsten Bewegung ge-



ten. — Siegwart verſchloß ſich nun auf ſein Zim-
mer; gieng auf und ab; rang die Haͤnde; fieng zu-
weilen ein Gebeth an; ward vom Schmerz wieder
vom Gebeth ab, in Labyrinthe hineingeriſſen, wo
er keinen Ausweg ſah; nahm ein Buch; wollte le-
ſen; warf es wieder weg; ſank auf die Knie; ſprang
wieder auf, und fand nirgends keine Ruhe. Er
gieng in den kleinen Garten am Kloſter; da erblick-
te er eine hohe Sonnenroſe, die von einem Wurm
angefreſſen war, und zu welken anfieng. Gott! rief
er, und Thraͤnen ſchoſſen ihm in die Augen; denn
er dachte ſich ſeinen Vater. Alles erinnerte ihn jetzt
an den Tod; jede Blume ward fuͤr ihn ein Bild
der Verweſung. — Zuweilen dachte er ſich alles
Gute, was er ſeinem Vater zu verdanken hatte,
und nun ſchauerte er zuruͤck, und wollte vergehen.
— Die ganze Nacht ward von ihm durchweint;
ſeine kurzen Schlummer waren aͤngſtlich; oft war
ihms, als ob ſein Vater ihm zuliſpelte und Abſchied
naͤhme, und dann fuhr er auf und aͤchzte. — Den
andern Tag war er wie betaͤubt; er gieng noch ein-
mal zum Doktor, und bat ihn, ja gewiß zu ſeinem
Vater hinaus zu reiten. Er gab ihm ein kleines
Briefchen mit an ſeinen Vater, und ein kleines an
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[506/0086] ten. — Siegwart verſchloß ſich nun auf ſein Zim- mer; gieng auf und ab; rang die Haͤnde; fieng zu- weilen ein Gebeth an; ward vom Schmerz wieder vom Gebeth ab, in Labyrinthe hineingeriſſen, wo er keinen Ausweg ſah; nahm ein Buch; wollte le- ſen; warf es wieder weg; ſank auf die Knie; ſprang wieder auf, und fand nirgends keine Ruhe. Er gieng in den kleinen Garten am Kloſter; da erblick- te er eine hohe Sonnenroſe, die von einem Wurm angefreſſen war, und zu welken anfieng. Gott! rief er, und Thraͤnen ſchoſſen ihm in die Augen; denn er dachte ſich ſeinen Vater. Alles erinnerte ihn jetzt an den Tod; jede Blume ward fuͤr ihn ein Bild der Verweſung. — Zuweilen dachte er ſich alles Gute, was er ſeinem Vater zu verdanken hatte, und nun ſchauerte er zuruͤck, und wollte vergehen. — Die ganze Nacht ward von ihm durchweint; ſeine kurzen Schlummer waren aͤngſtlich; oft war ihms, als ob ſein Vater ihm zuliſpelte und Abſchied naͤhme, und dann fuhr er auf und aͤchzte. — Den andern Tag war er wie betaͤubt; er gieng noch ein- mal zum Doktor, und bat ihn, ja gewiß zu ſeinem Vater hinaus zu reiten. Er gab ihm ein kleines Briefchen mit an ſeinen Vater, und ein kleines an Thereſen, das er mit der heftigſten Bewegung ge-

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 506. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/86>, abgerufen am 29.03.2024.