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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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Grünbach. Ja das sind so Empfindungen, die
man zuweilen hat; aber Kronhelm sollte selbst mehr
Mann seyn.

Siegwart. Mann seyn? Hältst du Liebe gar
für eine Schwachheit? Jch liebe selbst nicht, Grün-
bach! Wünsch auch nie zu lieben; aber das weis
ich, daß die edelsten und größten Menschen auch
geliebt haben.

Grünbach. Geliebt; das will ich nicht leugnen.
Nur nicht klagen soll man, wenns nicht gehen will!

Siegwart. Als ob man nicht schon über körperli-
che Leiden klagte! Und Seelenleiden sind doch wohl
noch grösser. Ein vollkommenes Geschöpf zu sehen,
dessen man sich werth fühlt, und von ihm verkannt,
oder misverstanden zu werden, das muß schmerzen.
Und noch grösser muß der Schmerz seyn, wenn
man gekannt, verstanden und geliebt wird; wenn
man fühlt, daß man im Besitz dieses Geschöpfes
das seligste Leben kosten könnte, und nun macht uns
Vorurtheil, oder unnatürliches Verhältniß in der
Welt, oder Eigensinn der Eltern und Verwandten
den Besitz dieser Seligkeit unmöglich. Jst es da
noch Schwachheit, wenn man leidet; seine Leiden
nicht ganz verbergen kann, und zuweilen in unge-
duldige Klagen ausbricht? Kronhelm hat sonst ge-



Gruͤnbach. Ja das ſind ſo Empfindungen, die
man zuweilen hat; aber Kronhelm ſollte ſelbſt mehr
Mann ſeyn.

Siegwart. Mann ſeyn? Haͤltſt du Liebe gar
fuͤr eine Schwachheit? Jch liebe ſelbſt nicht, Gruͤn-
bach! Wuͤnſch auch nie zu lieben; aber das weis
ich, daß die edelſten und groͤßten Menſchen auch
geliebt haben.

Gruͤnbach. Geliebt; das will ich nicht leugnen.
Nur nicht klagen ſoll man, wenns nicht gehen will!

Siegwart. Als ob man nicht ſchon uͤber koͤrperli-
che Leiden klagte! Und Seelenleiden ſind doch wohl
noch groͤſſer. Ein vollkommenes Geſchoͤpf zu ſehen,
deſſen man ſich werth fuͤhlt, und von ihm verkannt,
oder misverſtanden zu werden, das muß ſchmerzen.
Und noch groͤſſer muß der Schmerz ſeyn, wenn
man gekannt, verſtanden und geliebt wird; wenn
man fuͤhlt, daß man im Beſitz dieſes Geſchoͤpfes
das ſeligſte Leben koſten koͤnnte, und nun macht uns
Vorurtheil, oder unnatuͤrliches Verhaͤltniß in der
Welt, oder Eigenſinn der Eltern und Verwandten
den Beſitz dieſer Seligkeit unmoͤglich. Jſt es da
noch Schwachheit, wenn man leidet; ſeine Leiden
nicht ganz verbergen kann, und zuweilen in unge-
duldige Klagen ausbricht? Kronhelm hat ſonſt ge-

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[493/0073] Gruͤnbach. Ja das ſind ſo Empfindungen, die man zuweilen hat; aber Kronhelm ſollte ſelbſt mehr Mann ſeyn. Siegwart. Mann ſeyn? Haͤltſt du Liebe gar fuͤr eine Schwachheit? Jch liebe ſelbſt nicht, Gruͤn- bach! Wuͤnſch auch nie zu lieben; aber das weis ich, daß die edelſten und groͤßten Menſchen auch geliebt haben. Gruͤnbach. Geliebt; das will ich nicht leugnen. Nur nicht klagen ſoll man, wenns nicht gehen will! Siegwart. Als ob man nicht ſchon uͤber koͤrperli- che Leiden klagte! Und Seelenleiden ſind doch wohl noch groͤſſer. Ein vollkommenes Geſchoͤpf zu ſehen, deſſen man ſich werth fuͤhlt, und von ihm verkannt, oder misverſtanden zu werden, das muß ſchmerzen. Und noch groͤſſer muß der Schmerz ſeyn, wenn man gekannt, verſtanden und geliebt wird; wenn man fuͤhlt, daß man im Beſitz dieſes Geſchoͤpfes das ſeligſte Leben koſten koͤnnte, und nun macht uns Vorurtheil, oder unnatuͤrliches Verhaͤltniß in der Welt, oder Eigenſinn der Eltern und Verwandten den Beſitz dieſer Seligkeit unmoͤglich. Jſt es da noch Schwachheit, wenn man leidet; ſeine Leiden nicht ganz verbergen kann, und zuweilen in unge- duldige Klagen ausbricht? Kronhelm hat ſonſt ge-

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 493. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/73>, abgerufen am 29.03.2024.