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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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und vertraute ihre Seufzer und Thränen nur der
Einsamkeit. Sie erlaubte sich nur selten einen Blick
auf Siegwart, und zog ihn gleich wieder erschrocken
zurück, wenn er sie ansah. Er selbst war in der
Liebe noch zu unerfahren, als daß ers hätte mer-
ken sollen. Wenn sie am Klavier spielte und sang,
so bebte ihre Stimme, weil sie sich durch zu vielen
Ausdruck zu verrathen fürchtete. Zuweilen war
ihr Ton so wehmüthig und schmelzend, daß Sieg-
wart innigst dadurch gerührt wurde, und da glaubte
sie, er sey gegen sie nicht ganz gleichgültig; und
dieß nährte ihre Liebe.

Acht oder zehen Tage nach Kronhelms Abreise
bekam Siegwart folgenden Brief von ihm:

Einziger und liebster Freund!

Frag mich nicht, wie ich lebe? Dein eignes Herz
muß Dir antworten: bang und elend. O Lieber!
was ist doch des Menschen Leben? Schon so elend
oft im Arm des Freundes! Was ists ohne Freund?
Wenn ich nicht eine Religion hätte, die mich dul-
den lehrte, weil sie dem Dulder Kronen zeigt, so
sucht' ich einen Ausweg. -- Dank Dir für Dei-
nen lieben Vers, den ich hundertmal auf dem Weg
hieher wiederholte:



und vertraute ihre Seufzer und Thraͤnen nur der
Einſamkeit. Sie erlaubte ſich nur ſelten einen Blick
auf Siegwart, und zog ihn gleich wieder erſchrocken
zuruͤck, wenn er ſie anſah. Er ſelbſt war in der
Liebe noch zu unerfahren, als daß ers haͤtte mer-
ken ſollen. Wenn ſie am Klavier ſpielte und ſang,
ſo bebte ihre Stimme, weil ſie ſich durch zu vielen
Ausdruck zu verrathen fuͤrchtete. Zuweilen war
ihr Ton ſo wehmuͤthig und ſchmelzend, daß Sieg-
wart innigſt dadurch geruͤhrt wurde, und da glaubte
ſie, er ſey gegen ſie nicht ganz gleichguͤltig; und
dieß naͤhrte ihre Liebe.

Acht oder zehen Tage nach Kronhelms Abreiſe
bekam Siegwart folgenden Brief von ihm:

Einziger und liebſter Freund!

Frag mich nicht, wie ich lebe? Dein eignes Herz
muß Dir antworten: bang und elend. O Lieber!
was iſt doch des Menſchen Leben? Schon ſo elend
oft im Arm des Freundes! Was iſts ohne Freund?
Wenn ich nicht eine Religion haͤtte, die mich dul-
den lehrte, weil ſie dem Dulder Kronen zeigt, ſo
ſucht’ ich einen Ausweg. — Dank Dir fuͤr Dei-
nen lieben Vers, den ich hundertmal auf dem Weg
hieher wiederholte:

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[484/0064] und vertraute ihre Seufzer und Thraͤnen nur der Einſamkeit. Sie erlaubte ſich nur ſelten einen Blick auf Siegwart, und zog ihn gleich wieder erſchrocken zuruͤck, wenn er ſie anſah. Er ſelbſt war in der Liebe noch zu unerfahren, als daß ers haͤtte mer- ken ſollen. Wenn ſie am Klavier ſpielte und ſang, ſo bebte ihre Stimme, weil ſie ſich durch zu vielen Ausdruck zu verrathen fuͤrchtete. Zuweilen war ihr Ton ſo wehmuͤthig und ſchmelzend, daß Sieg- wart innigſt dadurch geruͤhrt wurde, und da glaubte ſie, er ſey gegen ſie nicht ganz gleichguͤltig; und dieß naͤhrte ihre Liebe. Acht oder zehen Tage nach Kronhelms Abreiſe bekam Siegwart folgenden Brief von ihm: Einziger und liebſter Freund! Frag mich nicht, wie ich lebe? Dein eignes Herz muß Dir antworten: bang und elend. O Lieber! was iſt doch des Menſchen Leben? Schon ſo elend oft im Arm des Freundes! Was iſts ohne Freund? Wenn ich nicht eine Religion haͤtte, die mich dul- den lehrte, weil ſie dem Dulder Kronen zeigt, ſo ſucht’ ich einen Ausweg. — Dank Dir fuͤr Dei- nen lieben Vers, den ich hundertmal auf dem Weg hieher wiederholte:

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 484. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/64>, abgerufen am 23.04.2024.