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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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nen Gebirg hinab. Die Sonne schien matt und
schwül. Die Luft stand ganz still, und kein Blatt
bewegte sich. Die Vögel, die das nahe Gewitter
fühlten, hüpften ängstlich von Zweig zu Zweig, und
wagtens kaum, einen schwachen Laut zu geben.
Anton und Siegwart sahen eine Zeitlang stillschwei-
gend in das, sich langsam fortwälzende Gewitter;
Gott gebe, sagten sie, daß es keinen Hagel mit-
bringt! und dann giengen sie, um der Schwüle
auszuweichen, in eine kühle Grotte, die in dem
kleinen Tannenwäldchen angelegt war. P. Anton,
den die Hitze, und das Alter niederdrückten, schlum-
merte etwas ein. Siegwart setzte sich leise an den
Eingang der Grotte, sah zuweilen nach dem Ge-
witter; dann kehrte er sich wieder um, und betrach-
tete mit stiller Ehrfurcht und mit Thränen in den
Augen den redlichen silberhaarichten Greis, der,
ohne Furcht vor dem nahenden Gewitter, ruhig
schlummerte. Plötzlich riß sich das Gewitter, das
bisher wie angeheftet über einem Wald geschwebt
hatte, los; die Sonne ward verfinstert, und rings
umher im Tannenwäldchen ward es finster. Sieg-
wart weckte den P. Anton auf; sie wollten nach
dem Kloster eilen, aber durch die Tannen fuhr
ein Sturm daher, der sie auszureissen drohte; der



nen Gebirg hinab. Die Sonne ſchien matt und
ſchwuͤl. Die Luft ſtand ganz ſtill, und kein Blatt
bewegte ſich. Die Voͤgel, die das nahe Gewitter
fuͤhlten, huͤpften aͤngſtlich von Zweig zu Zweig, und
wagtens kaum, einen ſchwachen Laut zu geben.
Anton und Siegwart ſahen eine Zeitlang ſtillſchwei-
gend in das, ſich langſam fortwaͤlzende Gewitter;
Gott gebe, ſagten ſie, daß es keinen Hagel mit-
bringt! und dann giengen ſie, um der Schwuͤle
auszuweichen, in eine kuͤhle Grotte, die in dem
kleinen Tannenwaͤldchen angelegt war. P. Anton,
den die Hitze, und das Alter niederdruͤckten, ſchlum-
merte etwas ein. Siegwart ſetzte ſich leiſe an den
Eingang der Grotte, ſah zuweilen nach dem Ge-
witter; dann kehrte er ſich wieder um, und betrach-
tete mit ſtiller Ehrfurcht und mit Thraͤnen in den
Augen den redlichen ſilberhaarichten Greis, der,
ohne Furcht vor dem nahenden Gewitter, ruhig
ſchlummerte. Ploͤtzlich riß ſich das Gewitter, das
bisher wie angeheftet uͤber einem Wald geſchwebt
hatte, los; die Sonne ward verfinſtert, und rings
umher im Tannenwaͤldchen ward es finſter. Sieg-
wart weckte den P. Anton auf; ſie wollten nach
dem Kloſter eilen, aber durch die Tannen fuhr
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[1058/0638] nen Gebirg hinab. Die Sonne ſchien matt und ſchwuͤl. Die Luft ſtand ganz ſtill, und kein Blatt bewegte ſich. Die Voͤgel, die das nahe Gewitter fuͤhlten, huͤpften aͤngſtlich von Zweig zu Zweig, und wagtens kaum, einen ſchwachen Laut zu geben. Anton und Siegwart ſahen eine Zeitlang ſtillſchwei- gend in das, ſich langſam fortwaͤlzende Gewitter; Gott gebe, ſagten ſie, daß es keinen Hagel mit- bringt! und dann giengen ſie, um der Schwuͤle auszuweichen, in eine kuͤhle Grotte, die in dem kleinen Tannenwaͤldchen angelegt war. P. Anton, den die Hitze, und das Alter niederdruͤckten, ſchlum- merte etwas ein. Siegwart ſetzte ſich leiſe an den Eingang der Grotte, ſah zuweilen nach dem Ge- witter; dann kehrte er ſich wieder um, und betrach- tete mit ſtiller Ehrfurcht und mit Thraͤnen in den Augen den redlichen ſilberhaarichten Greis, der, ohne Furcht vor dem nahenden Gewitter, ruhig ſchlummerte. Ploͤtzlich riß ſich das Gewitter, das bisher wie angeheftet uͤber einem Wald geſchwebt hatte, los; die Sonne ward verfinſtert, und rings umher im Tannenwaͤldchen ward es finſter. Sieg- wart weckte den P. Anton auf; ſie wollten nach dem Kloſter eilen, aber durch die Tannen fuhr ein Sturm daher, der ſie auszureiſſen drohte; der

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 1058. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/638>, abgerufen am 29.03.2024.