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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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die Stellen, die ihm aus Haller, Kleist, und Klop-
stock im Gedächtniß geblieben waren, und kleine
Aussätze an Gott und Marianen, und besonders
eine ziemliche Anzahl melancholischer, elegischer Ge-
dichte, die seine ganze Geschichte und den Zustand
seines Herzens schilderten, niederzuschreiben.

Pater Anton sah den guten Jüngling schmach-
ten, und sichtbar nach und nach dahin sterben, ohne
ihn trösten zu können. Er litt mit ihm, und oft
sassen sie ganze Stunden beysammen, |sahn sich
wehmüthig und schmachtend an, und fühlten jeden
Augenblick der Zeit, wie er trüb und freudenleer
dahin schlich.

Jm Frühjahr nahm ihn Pater Anton gewöhn-
lich auf die benachbarten Dörfer mit, wo er All-
mosen einsammelte, predigte, und dem Bauervolk
in geistlichen und weltlichen Anliegen guten Rath
ertheilte. Unser Siegwart war bey den Bauren
sehr beliebt, weil er sie auch auf eine rührende
und eindringende Art zur Frömmigkeit ermahnte.
Sie nannten ihn in der ganzen Gegend den schwer-
müthigen Bruder Georg. Aber die Liebe dieser
guten Leute war nicht im Stande, einen Stral
von Heiterkeit und Ruhe in sein trübes Herz zu
giessen. Fast alles ließ ihn kalt; auch sogar der



die Stellen, die ihm aus Haller, Kleiſt, und Klop-
ſtock im Gedaͤchtniß geblieben waren, und kleine
Auſſaͤtze an Gott und Marianen, und beſonders
eine ziemliche Anzahl melancholiſcher, elegiſcher Ge-
dichte, die ſeine ganze Geſchichte und den Zuſtand
ſeines Herzens ſchilderten, niederzuſchreiben.

Pater Anton ſah den guten Juͤngling ſchmach-
ten, und ſichtbar nach und nach dahin ſterben, ohne
ihn troͤſten zu koͤnnen. Er litt mit ihm, und oft
ſaſſen ſie ganze Stunden beyſammen, |ſahn ſich
wehmuͤthig und ſchmachtend an, und fuͤhlten jeden
Augenblick der Zeit, wie er truͤb und freudenleer
dahin ſchlich.

Jm Fruͤhjahr nahm ihn Pater Anton gewoͤhn-
lich auf die benachbarten Doͤrfer mit, wo er All-
moſen einſammelte, predigte, und dem Bauervolk
in geiſtlichen und weltlichen Anliegen guten Rath
ertheilte. Unſer Siegwart war bey den Bauren
ſehr beliebt, weil er ſie auch auf eine ruͤhrende
und eindringende Art zur Froͤmmigkeit ermahnte.
Sie nannten ihn in der ganzen Gegend den ſchwer-
muͤthigen Bruder Georg. Aber die Liebe dieſer
guten Leute war nicht im Stande, einen Stral
von Heiterkeit und Ruhe in ſein truͤbes Herz zu
gieſſen. Faſt alles ließ ihn kalt; auch ſogar der

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[1041/0621] die Stellen, die ihm aus Haller, Kleiſt, und Klop- ſtock im Gedaͤchtniß geblieben waren, und kleine Auſſaͤtze an Gott und Marianen, und beſonders eine ziemliche Anzahl melancholiſcher, elegiſcher Ge- dichte, die ſeine ganze Geſchichte und den Zuſtand ſeines Herzens ſchilderten, niederzuſchreiben. Pater Anton ſah den guten Juͤngling ſchmach- ten, und ſichtbar nach und nach dahin ſterben, ohne ihn troͤſten zu koͤnnen. Er litt mit ihm, und oft ſaſſen ſie ganze Stunden beyſammen, |ſahn ſich wehmuͤthig und ſchmachtend an, und fuͤhlten jeden Augenblick der Zeit, wie er truͤb und freudenleer dahin ſchlich. Jm Fruͤhjahr nahm ihn Pater Anton gewoͤhn- lich auf die benachbarten Doͤrfer mit, wo er All- moſen einſammelte, predigte, und dem Bauervolk in geiſtlichen und weltlichen Anliegen guten Rath ertheilte. Unſer Siegwart war bey den Bauren ſehr beliebt, weil er ſie auch auf eine ruͤhrende und eindringende Art zur Froͤmmigkeit ermahnte. Sie nannten ihn in der ganzen Gegend den ſchwer- muͤthigen Bruder Georg. Aber die Liebe dieſer guten Leute war nicht im Stande, einen Stral von Heiterkeit und Ruhe in ſein truͤbes Herz zu gieſſen. Faſt alles ließ ihn kalt; auch ſogar der

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 1041. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/621>, abgerufen am 19.04.2024.