Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

Bild:
<< vorherige Seite



er saß bey seinem lieben Pater Anton auf der
Zelle. Gleich in den ersten Tagen erzählte er ihm,
mit tausend Thränen, und aufs unpartheyischste
seine Geschichte. Der alte Mann, der der Welt
schon ganz abgestorben war, wurde oft im Jnner-
sten dabey bewegt, und nahm an Marianens und
an seines jungen Freundes Schicksal soviel Antheil,
als ein Jüngling. Er war offenherzig genug, un-
serm Siegwart verschiedne Abende nach einander
seine ganze Geschichte, die oft sehr traurig war, zu
erzählen, und ihm auch die Verirrungen, in die er
sich verwickelt hatte, nicht zu verschweigen. Unser
Siegwart hörte ihm mit tiefer Rührung zu; oft
vergaß er dabey seiner eignen Unglücksfälle; oft
aber ward er wieder durch die entfernteste nur an-
scheinende Aehnlichkeit aufs lebhafteste an seine eig-
nen Schicksale erinnert, so daß Anton manche
Viertelstunde in der Erzählung inne hielt, und
mit ihm weinte.

Siegwart konnte nicht begreifen, wie ein Mann,
der soviel ausgestanden hatte, wie Pater Anton,
mit seinem empfindungsvollen, tieffühlenden Her-
zen nicht nur solche Leiden| überleben, sondern wie-
der zu einer solchen Ruh| gelangen könnte; er
äusserte auch seine Verwunderung darüber, und



er ſaß bey ſeinem lieben Pater Anton auf der
Zelle. Gleich in den erſten Tagen erzaͤhlte er ihm,
mit tauſend Thraͤnen, und aufs unpartheyiſchſte
ſeine Geſchichte. Der alte Mann, der der Welt
ſchon ganz abgeſtorben war, wurde oft im Jnner-
ſten dabey bewegt, und nahm an Marianens und
an ſeines jungen Freundes Schickſal ſoviel Antheil,
als ein Juͤngling. Er war offenherzig genug, un-
ſerm Siegwart verſchiedne Abende nach einander
ſeine ganze Geſchichte, die oft ſehr traurig war, zu
erzaͤhlen, und ihm auch die Verirrungen, in die er
ſich verwickelt hatte, nicht zu verſchweigen. Unſer
Siegwart hoͤrte ihm mit tiefer Ruͤhrung zu; oft
vergaß er dabey ſeiner eignen Ungluͤcksfaͤlle; oft
aber ward er wieder durch die entfernteſte nur an-
ſcheinende Aehnlichkeit aufs lebhafteſte an ſeine eig-
nen Schickſale erinnert, ſo daß Anton manche
Viertelſtunde in der Erzaͤhlung inne hielt, und
mit ihm weinte.

Siegwart konnte nicht begreifen, wie ein Mann,
der ſoviel ausgeſtanden hatte, wie Pater Anton,
mit ſeinem empfindungsvollen, tieffuͤhlenden Her-
zen nicht nur ſolche Leiden| uͤberleben, ſondern wie-
der zu einer ſolchen Ruh| gelangen koͤnnte; er
aͤuſſerte auch ſeine Verwunderung daruͤber, und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0611" n="1031"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
er &#x017F;aß bey &#x017F;einem lieben Pater Anton auf der<lb/>
Zelle. Gleich in den er&#x017F;ten Tagen erza&#x0364;hlte er ihm,<lb/>
mit tau&#x017F;end Thra&#x0364;nen, und aufs unpartheyi&#x017F;ch&#x017F;te<lb/>
&#x017F;eine Ge&#x017F;chichte. Der alte Mann, der der Welt<lb/>
&#x017F;chon ganz abge&#x017F;torben war, wurde oft im Jnner-<lb/>
&#x017F;ten dabey bewegt, und nahm an Marianens und<lb/>
an &#x017F;eines jungen Freundes Schick&#x017F;al &#x017F;oviel Antheil,<lb/>
als ein Ju&#x0364;ngling. Er war offenherzig genug, un-<lb/>
&#x017F;erm Siegwart ver&#x017F;chiedne Abende nach einander<lb/>
&#x017F;eine ganze Ge&#x017F;chichte, die oft &#x017F;ehr traurig war, zu<lb/>
erza&#x0364;hlen, und ihm auch die Verirrungen, in die er<lb/>
&#x017F;ich verwickelt hatte, nicht zu ver&#x017F;chweigen. Un&#x017F;er<lb/>
Siegwart ho&#x0364;rte ihm mit tiefer Ru&#x0364;hrung zu; oft<lb/>
vergaß er dabey &#x017F;einer eignen Unglu&#x0364;cksfa&#x0364;lle; oft<lb/>
aber ward er wieder durch die entfernte&#x017F;te nur an-<lb/>
&#x017F;cheinende Aehnlichkeit aufs lebhafte&#x017F;te an &#x017F;eine eig-<lb/>
nen Schick&#x017F;ale erinnert, &#x017F;o daß Anton manche<lb/>
Viertel&#x017F;tunde in der Erza&#x0364;hlung inne hielt, und<lb/>
mit ihm weinte.</p><lb/>
        <p>Siegwart konnte nicht begreifen, wie ein Mann,<lb/>
der &#x017F;oviel ausge&#x017F;tanden hatte, wie Pater Anton,<lb/>
mit &#x017F;einem empfindungsvollen, tieffu&#x0364;hlenden Her-<lb/>
zen nicht nur &#x017F;olche Leiden| u&#x0364;berleben, &#x017F;ondern wie-<lb/>
der zu einer &#x017F;olchen Ruh| gelangen ko&#x0364;nnte; er<lb/>
a&#x0364;u&#x017F;&#x017F;erte auch &#x017F;eine Verwunderung daru&#x0364;ber, und<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[1031/0611] er ſaß bey ſeinem lieben Pater Anton auf der Zelle. Gleich in den erſten Tagen erzaͤhlte er ihm, mit tauſend Thraͤnen, und aufs unpartheyiſchſte ſeine Geſchichte. Der alte Mann, der der Welt ſchon ganz abgeſtorben war, wurde oft im Jnner- ſten dabey bewegt, und nahm an Marianens und an ſeines jungen Freundes Schickſal ſoviel Antheil, als ein Juͤngling. Er war offenherzig genug, un- ſerm Siegwart verſchiedne Abende nach einander ſeine ganze Geſchichte, die oft ſehr traurig war, zu erzaͤhlen, und ihm auch die Verirrungen, in die er ſich verwickelt hatte, nicht zu verſchweigen. Unſer Siegwart hoͤrte ihm mit tiefer Ruͤhrung zu; oft vergaß er dabey ſeiner eignen Ungluͤcksfaͤlle; oft aber ward er wieder durch die entfernteſte nur an- ſcheinende Aehnlichkeit aufs lebhafteſte an ſeine eig- nen Schickſale erinnert, ſo daß Anton manche Viertelſtunde in der Erzaͤhlung inne hielt, und mit ihm weinte. Siegwart konnte nicht begreifen, wie ein Mann, der ſoviel ausgeſtanden hatte, wie Pater Anton, mit ſeinem empfindungsvollen, tieffuͤhlenden Her- zen nicht nur ſolche Leiden| uͤberleben, ſondern wie- der zu einer ſolchen Ruh| gelangen koͤnnte; er aͤuſſerte auch ſeine Verwunderung daruͤber, und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/611
Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 1031. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/611>, abgerufen am 29.03.2024.