Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

Bild:
<< vorherige Seite


Therese versprach, ihn Morgen nicht zu sehen.
Er drückte sie mit Schluchzen an sein Herz.
Beyde konnten nicht sprechen.

Den andern Morgen um vier Uhr gieng Sieg-
wart in das Zimmer, wo Theresens Kind schlief.
Er küßte den kleinen Engel, und muste weggehn,
um das Kind durch sein Schluchzen nicht zu wek-
ken. Gott, rief er aus, wie ruhig schläft es! war-
um können wir nicht Kinder bleiben? -- Hierauf
setzte er sich mit Kronhelm in den Wagen, und
fuhr weg. Sein übriges Vermögen, was er nicht
ins Kloster mitnahm, vermachte er seiner Schwester
Salome die ihm tausend Thränen nachweinte.
Rothfels blieb zurück, um Theresen zu trösten.

Er war im Wagen ruhiger und stärker als
man erwarten konnte. Der Gedanke ans Kloster
war etwas Neues, und beschäftigte seine Seele;
auch der Gedanke an den nahen Tod tröstete ihn.
Seine Seele ward stärker, je schwächer er seinen
Körper fühlte.

Kronhelm rieth ihm, seine Geschichte sorgfältig
zu verbergen|, weil sie ihm im Kloster schaden
könnte. Siegwart versprachs; nur meinem |lie-
ben Pater Anton, sagt' er, kann ich nichts ver-



Thereſe verſprach, ihn Morgen nicht zu ſehen.
Er druͤckte ſie mit Schluchzen an ſein Herz.
Beyde konnten nicht ſprechen.

Den andern Morgen um vier Uhr gieng Sieg-
wart in das Zimmer, wo Thereſens Kind ſchlief.
Er kuͤßte den kleinen Engel, und muſte weggehn,
um das Kind durch ſein Schluchzen nicht zu wek-
ken. Gott, rief er aus, wie ruhig ſchlaͤft es! war-
um koͤnnen wir nicht Kinder bleiben? — Hierauf
ſetzte er ſich mit Kronhelm in den Wagen, und
fuhr weg. Sein uͤbriges Vermoͤgen, was er nicht
ins Kloſter mitnahm, vermachte er ſeiner Schweſter
Salome die ihm tauſend Thraͤnen nachweinte.
Rothfels blieb zuruͤck, um Thereſen zu troͤſten.

Er war im Wagen ruhiger und ſtaͤrker als
man erwarten konnte. Der Gedanke ans Kloſter
war etwas Neues, und beſchaͤftigte ſeine Seele;
auch der Gedanke an den nahen Tod troͤſtete ihn.
Seine Seele ward ſtaͤrker, je ſchwaͤcher er ſeinen
Koͤrper fuͤhlte.

Kronhelm rieth ihm, ſeine Geſchichte ſorgfaͤltig
zu verbergen|, weil ſie ihm im Kloſter ſchaden
koͤnnte. Siegwart verſprachs; nur meinem |lie-
ben Pater Anton, ſagt’ er, kann ich nichts ver-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0604" n="1024"/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <p>There&#x017F;e ver&#x017F;prach, ihn Morgen nicht zu &#x017F;ehen.<lb/>
Er dru&#x0364;ckte &#x017F;ie mit Schluchzen an &#x017F;ein Herz.<lb/>
Beyde konnten nicht &#x017F;prechen.</p><lb/>
        <p>Den andern Morgen um vier Uhr gieng Sieg-<lb/>
wart in das Zimmer, wo There&#x017F;ens Kind &#x017F;chlief.<lb/>
Er ku&#x0364;ßte den kleinen Engel, und mu&#x017F;te weggehn,<lb/>
um das Kind durch &#x017F;ein Schluchzen nicht zu wek-<lb/>
ken. Gott, rief er aus, wie ruhig &#x017F;chla&#x0364;ft es! war-<lb/>
um ko&#x0364;nnen wir nicht Kinder bleiben? &#x2014; Hierauf<lb/>
&#x017F;etzte er &#x017F;ich mit Kronhelm in den Wagen, und<lb/>
fuhr weg. Sein u&#x0364;briges Vermo&#x0364;gen, was er nicht<lb/>
ins Klo&#x017F;ter mitnahm, vermachte er &#x017F;einer Schwe&#x017F;ter<lb/>
Salome die ihm tau&#x017F;end Thra&#x0364;nen nachweinte.<lb/>
Rothfels blieb zuru&#x0364;ck, um There&#x017F;en zu tro&#x0364;&#x017F;ten.</p><lb/>
        <p>Er war im Wagen ruhiger und &#x017F;ta&#x0364;rker als<lb/>
man erwarten konnte. Der Gedanke ans Klo&#x017F;ter<lb/>
war etwas Neues, und be&#x017F;cha&#x0364;ftigte &#x017F;eine Seele;<lb/>
auch der Gedanke an den nahen Tod tro&#x0364;&#x017F;tete ihn.<lb/>
Seine Seele ward &#x017F;ta&#x0364;rker, je &#x017F;chwa&#x0364;cher er &#x017F;einen<lb/>
Ko&#x0364;rper fu&#x0364;hlte.</p><lb/>
        <p>Kronhelm rieth ihm, &#x017F;eine Ge&#x017F;chichte &#x017F;orgfa&#x0364;ltig<lb/>
zu verbergen|, weil &#x017F;ie ihm im Klo&#x017F;ter &#x017F;chaden<lb/>
ko&#x0364;nnte. Siegwart ver&#x017F;prachs; nur meinem |lie-<lb/>
ben Pater Anton, &#x017F;agt&#x2019; er, kann ich nichts ver-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[1024/0604] Thereſe verſprach, ihn Morgen nicht zu ſehen. Er druͤckte ſie mit Schluchzen an ſein Herz. Beyde konnten nicht ſprechen. Den andern Morgen um vier Uhr gieng Sieg- wart in das Zimmer, wo Thereſens Kind ſchlief. Er kuͤßte den kleinen Engel, und muſte weggehn, um das Kind durch ſein Schluchzen nicht zu wek- ken. Gott, rief er aus, wie ruhig ſchlaͤft es! war- um koͤnnen wir nicht Kinder bleiben? — Hierauf ſetzte er ſich mit Kronhelm in den Wagen, und fuhr weg. Sein uͤbriges Vermoͤgen, was er nicht ins Kloſter mitnahm, vermachte er ſeiner Schweſter Salome die ihm tauſend Thraͤnen nachweinte. Rothfels blieb zuruͤck, um Thereſen zu troͤſten. Er war im Wagen ruhiger und ſtaͤrker als man erwarten konnte. Der Gedanke ans Kloſter war etwas Neues, und beſchaͤftigte ſeine Seele; auch der Gedanke an den nahen Tod troͤſtete ihn. Seine Seele ward ſtaͤrker, je ſchwaͤcher er ſeinen Koͤrper fuͤhlte. Kronhelm rieth ihm, ſeine Geſchichte ſorgfaͤltig zu verbergen|, weil ſie ihm im Kloſter ſchaden koͤnnte. Siegwart verſprachs; nur meinem |lie- ben Pater Anton, ſagt’ er, kann ich nichts ver-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/604
Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 1024. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/604>, abgerufen am 20.04.2024.