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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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lief erschrocken davon; Brigitte steckte das Blatt
schnell ein, und sprach mit der Aebtissin.

Siegwart gerieth in die schrecklichste Angst; er
fürchtete, die Aebtissin habe das Blatt gesehen, und
sich zeigen lassen, und nun sey alles verrathen.
Jn dem Blatt standen diese wenigen Worte:

"Bald, bald kommt die Stunde der Erlösung.
Diese Nacht, meine Theureste, soll uns ewig ver-
einigen. Meine Hand zittert vor Erwartung.
Brigitte bringt dich um zehn Uhr an den be-
stimmten Ort. Verbirg deine Freude! Bitte Gott
um Beystand zur Erlösung! Verbrenne dieses
Blatt!"

Er dachte hin und her, was aus dieser Ueber-
raschung werden wollte? Alles Schreckliche stellte
sich seiner Seele vor. Er verwünschte den Augen-
blick, in dem er diese Zeilen geschrieben hatte. Ein
paarmal wollte er schon zur Aebtissin eilen, ihr al-
les offenbaren, sich ihr zu Füßen werfen, und sie
um Mitleid anflehn. Aber dann dachte er wieder:
Vielleicht stell ich mirs zu arg vor; vielleicht hat
die Aebtissin auf das Blatt nicht geachtet. Jn
dieser schrecklichen Unruhe gieng er im dunkelsten
Gang des Gartens hin und her, als er Brigit-
ten mit rothgeweinten Augen kommen sah. Er



lief erſchrocken davon; Brigitte ſteckte das Blatt
ſchnell ein, und ſprach mit der Aebtiſſin.

Siegwart gerieth in die ſchrecklichſte Angſt; er
fuͤrchtete, die Aebtiſſin habe das Blatt geſehen, und
ſich zeigen laſſen, und nun ſey alles verrathen.
Jn dem Blatt ſtanden dieſe wenigen Worte:

„Bald, bald kommt die Stunde der Erloͤſung.
Dieſe Nacht, meine Theureſte, ſoll uns ewig ver-
einigen. Meine Hand zittert vor Erwartung.
Brigitte bringt dich um zehn Uhr an den be-
ſtimmten Ort. Verbirg deine Freude! Bitte Gott
um Beyſtand zur Erloͤſung! Verbrenne dieſes
Blatt!‟

Er dachte hin und her, was aus dieſer Ueber-
raſchung werden wollte? Alles Schreckliche ſtellte
ſich ſeiner Seele vor. Er verwuͤnſchte den Augen-
blick, in dem er dieſe Zeilen geſchrieben hatte. Ein
paarmal wollte er ſchon zur Aebtiſſin eilen, ihr al-
les offenbaren, ſich ihr zu Fuͤßen werfen, und ſie
um Mitleid anflehn. Aber dann dachte er wieder:
Vielleicht ſtell ich mirs zu arg vor; vielleicht hat
die Aebtiſſin auf das Blatt nicht geachtet. Jn
dieſer ſchrecklichen Unruhe gieng er im dunkelſten
Gang des Gartens hin und her, als er Brigit-
ten mit rothgeweinten Augen kommen ſah. Er

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[1013/0593] lief erſchrocken davon; Brigitte ſteckte das Blatt ſchnell ein, und ſprach mit der Aebtiſſin. Siegwart gerieth in die ſchrecklichſte Angſt; er fuͤrchtete, die Aebtiſſin habe das Blatt geſehen, und ſich zeigen laſſen, und nun ſey alles verrathen. Jn dem Blatt ſtanden dieſe wenigen Worte: „Bald, bald kommt die Stunde der Erloͤſung. Dieſe Nacht, meine Theureſte, ſoll uns ewig ver- einigen. Meine Hand zittert vor Erwartung. Brigitte bringt dich um zehn Uhr an den be- ſtimmten Ort. Verbirg deine Freude! Bitte Gott um Beyſtand zur Erloͤſung! Verbrenne dieſes Blatt!‟ Er dachte hin und her, was aus dieſer Ueber- raſchung werden wollte? Alles Schreckliche ſtellte ſich ſeiner Seele vor. Er verwuͤnſchte den Augen- blick, in dem er dieſe Zeilen geſchrieben hatte. Ein paarmal wollte er ſchon zur Aebtiſſin eilen, ihr al- les offenbaren, ſich ihr zu Fuͤßen werfen, und ſie um Mitleid anflehn. Aber dann dachte er wieder: Vielleicht ſtell ich mirs zu arg vor; vielleicht hat die Aebtiſſin auf das Blatt nicht geachtet. Jn dieſer ſchrecklichen Unruhe gieng er im dunkelſten Gang des Gartens hin und her, als er Brigit- ten mit rothgeweinten Augen kommen ſah. Er

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 1013. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/593>, abgerufen am 18.04.2024.