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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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Siegwart freute sich mit Rothfels über den
guten Erfolg seines Unternehmens, und am dritten
Tage kam P. Klemens wieder, mit der Nachricht,
die Aebtissin zu Marienfeld wolle den Gärtner
Georg sprechen, und werde ihn vermuthlich in
Dienst nehmen. Siegwart reiste mit der freudig-
sten Hofnung ab, und kam noch denselben Nach-
mittag zu Marienfeld an. Die Aebtissin ließ ihn
ans Sprachzimmer kommen; er gefiel ihr, und
ward auf P. Klemens Zeugniß mit einem ansehn-
lichen Lohn zum Obergärtner angenommen. Sieg-
wart hätte sich vor übermäßiger Freude fast selbst
verrathen, und seine Rolle vergessen. Er dank-
te der Aebtissin aufs feurigste, sein Herz schlug
ihm sichtbar, und er sprang mehr, als er gieng,
an seine Arbeit.

Wenn er im Garten arbeitete, so sah er sich wol
tausendmal um, ob er seine Mariane nicht er-
blicke? Wenn er oben an den Klosterfenstern, die
mit hölzernen Jalousieladen vermacht waren, sich
etwas bewegen sah, so blickte er unbeweglich hin,
weil er glaubte, seine Mariane stehe dran. Sei-
ne Brust war den ganzen Tag von einem unruhi-
gen Sehnen belebt; es war ihm zu Muth, wie
einem Neuverliebten; bald war er heiter, bald



Siegwart freute ſich mit Rothfels uͤber den
guten Erfolg ſeines Unternehmens, und am dritten
Tage kam P. Klemens wieder, mit der Nachricht,
die Aebtiſſin zu Marienfeld wolle den Gaͤrtner
Georg ſprechen, und werde ihn vermuthlich in
Dienſt nehmen. Siegwart reiſte mit der freudig-
ſten Hofnung ab, und kam noch denſelben Nach-
mittag zu Marienfeld an. Die Aebtiſſin ließ ihn
ans Sprachzimmer kommen; er gefiel ihr, und
ward auf P. Klemens Zeugniß mit einem anſehn-
lichen Lohn zum Obergaͤrtner angenommen. Sieg-
wart haͤtte ſich vor uͤbermaͤßiger Freude faſt ſelbſt
verrathen, und ſeine Rolle vergeſſen. Er dank-
te der Aebtiſſin aufs feurigſte, ſein Herz ſchlug
ihm ſichtbar, und er ſprang mehr, als er gieng,
an ſeine Arbeit.

Wenn er im Garten arbeitete, ſo ſah er ſich wol
tauſendmal um, ob er ſeine Mariane nicht er-
blicke? Wenn er oben an den Kloſterfenſtern, die
mit hoͤlzernen Jalouſieladen vermacht waren, ſich
etwas bewegen ſah, ſo blickte er unbeweglich hin,
weil er glaubte, ſeine Mariane ſtehe dran. Sei-
ne Bruſt war den ganzen Tag von einem unruhi-
gen Sehnen belebt; es war ihm zu Muth, wie
einem Neuverliebten; bald war er heiter, bald

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[1000/0580] Siegwart freute ſich mit Rothfels uͤber den guten Erfolg ſeines Unternehmens, und am dritten Tage kam P. Klemens wieder, mit der Nachricht, die Aebtiſſin zu Marienfeld wolle den Gaͤrtner Georg ſprechen, und werde ihn vermuthlich in Dienſt nehmen. Siegwart reiſte mit der freudig- ſten Hofnung ab, und kam noch denſelben Nach- mittag zu Marienfeld an. Die Aebtiſſin ließ ihn ans Sprachzimmer kommen; er gefiel ihr, und ward auf P. Klemens Zeugniß mit einem anſehn- lichen Lohn zum Obergaͤrtner angenommen. Sieg- wart haͤtte ſich vor uͤbermaͤßiger Freude faſt ſelbſt verrathen, und ſeine Rolle vergeſſen. Er dank- te der Aebtiſſin aufs feurigſte, ſein Herz ſchlug ihm ſichtbar, und er ſprang mehr, als er gieng, an ſeine Arbeit. Wenn er im Garten arbeitete, ſo ſah er ſich wol tauſendmal um, ob er ſeine Mariane nicht er- blicke? Wenn er oben an den Kloſterfenſtern, die mit hoͤlzernen Jalouſieladen vermacht waren, ſich etwas bewegen ſah, ſo blickte er unbeweglich hin, weil er glaubte, ſeine Mariane ſtehe dran. Sei- ne Bruſt war den ganzen Tag von einem unruhi- gen Sehnen belebt; es war ihm zu Muth, wie einem Neuverliebten; bald war er heiter, bald

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 1000. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/580>, abgerufen am 19.04.2024.