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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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sen, denn am Throne des Allmächtigen will ich
für ihn bethen, daß er bald zu mir hinuntersinke,
und vergesse seiner Leiden!

O Geliebte, wenn du schon entflohen bist der
Erde, so steig nieder auf den Abendwolken, wenn
der Wind durch meine Tannenwipfel säuselt; oder
wenn der Mond durch sie herabscheint, und der
Wind schweigt; steig hernieder, um mir Trost
und Ahndung meines nahen Todes zuzulispeln;
um mein Herz zu unterstützen, bis ich ausgerun-
gen habe, daß die Seele, wenn sie scheidet, dir
entgegen eile, und in deinem Arm zuerst des Him-
mels Seligkeit empfinde! -- Oder wenn du noch
im Thal der Thränen weinest; und ich lieg
und ruh im Grabe, o so führe dich dein Engel
an die Stätte, wo mein Grab ist, daß du weinest,
und dann sterbest! -- Wenig Tage bleib ich
noch bey meinen Freunden. Ach, sie leiden viel
um meinetwillen, und sie sollten glücklich seyn.
Jch will sie verlassen, daß ihr Thränenquell
versiege, daß mein Gram nicht ihre Freuden störe!
Denn die Liebe hat, was sie so selten thut, mit
ihren Freuden sie gesegnet. Meine Thränen sollen
ihren Kranz von Freuden nicht benetzen; darum
eil ich in den Wald und sterbe. --



ſen, denn am Throne des Allmaͤchtigen will ich
fuͤr ihn bethen, daß er bald zu mir hinunterſinke,
und vergeſſe ſeiner Leiden!

O Geliebte, wenn du ſchon entflohen biſt der
Erde, ſo ſteig nieder auf den Abendwolken, wenn
der Wind durch meine Tannenwipfel ſaͤuſelt; oder
wenn der Mond durch ſie herabſcheint, und der
Wind ſchweigt; ſteig hernieder, um mir Troſt
und Ahndung meines nahen Todes zuzuliſpeln;
um mein Herz zu unterſtuͤtzen, bis ich ausgerun-
gen habe, daß die Seele, wenn ſie ſcheidet, dir
entgegen eile, und in deinem Arm zuerſt des Him-
mels Seligkeit empfinde! — Oder wenn du noch
im Thal der Thraͤnen weineſt; und ich lieg
und ruh im Grabe, o ſo fuͤhre dich dein Engel
an die Staͤtte, wo mein Grab iſt, daß du weineſt,
und dann ſterbeſt! — Wenig Tage bleib ich
noch bey meinen Freunden. Ach, ſie leiden viel
um meinetwillen, und ſie ſollten gluͤcklich ſeyn.
Jch will ſie verlaſſen, daß ihr Thraͤnenquell
verſiege, daß mein Gram nicht ihre Freuden ſtoͤre!
Denn die Liebe hat, was ſie ſo ſelten thut, mit
ihren Freuden ſie geſegnet. Meine Thraͤnen ſollen
ihren Kranz von Freuden nicht benetzen; darum
eil ich in den Wald und ſterbe. —

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[976/0556] ſen, denn am Throne des Allmaͤchtigen will ich fuͤr ihn bethen, daß er bald zu mir hinunterſinke, und vergeſſe ſeiner Leiden! O Geliebte, wenn du ſchon entflohen biſt der Erde, ſo ſteig nieder auf den Abendwolken, wenn der Wind durch meine Tannenwipfel ſaͤuſelt; oder wenn der Mond durch ſie herabſcheint, und der Wind ſchweigt; ſteig hernieder, um mir Troſt und Ahndung meines nahen Todes zuzuliſpeln; um mein Herz zu unterſtuͤtzen, bis ich ausgerun- gen habe, daß die Seele, wenn ſie ſcheidet, dir entgegen eile, und in deinem Arm zuerſt des Him- mels Seligkeit empfinde! — Oder wenn du noch im Thal der Thraͤnen weineſt; und ich lieg und ruh im Grabe, o ſo fuͤhre dich dein Engel an die Staͤtte, wo mein Grab iſt, daß du weineſt, und dann ſterbeſt! — Wenig Tage bleib ich noch bey meinen Freunden. Ach, ſie leiden viel um meinetwillen, und ſie ſollten gluͤcklich ſeyn. Jch will ſie verlaſſen, daß ihr Thraͤnenquell verſiege, daß mein Gram nicht ihre Freuden ſtoͤre! Denn die Liebe hat, was ſie ſo ſelten thut, mit ihren Freuden ſie geſegnet. Meine Thraͤnen ſollen ihren Kranz von Freuden nicht benetzen; darum eil ich in den Wald und ſterbe. —

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 976. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/556>, abgerufen am 23.04.2024.