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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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sterbe! -- Oder schmachtet deine Seele noch in
ihren Banden; ist der Kerker des Lebens noch nicht
durchgebrochen; o so bring ein Engel dir die Seuf-
zer, und den Hauch der Liebe, den ich hier aufs
Blatt hin hauche!

Engel, oder Mensch, ich grüsse dich, umarme
dich mit meiner Seele. Ach, wir leiden viel, Ge-
liebte! Doch mir wäre wohl, wenn du nur
überwunden hättest! Wiß! ich habe dich gesucht
mit Thränen, und dich nicht gefunden! Wiß! ich
rannte Wälder durch, und lechzete vor Ohnmacht,
und ich hab dich nicht gefunden! Ach, ich glaubte
dich zu finden, aber eine Wolke barg dich meinen
Augen. Nun ist meine Seele trüb, und wünscht
zu sterben.

Jch hab eine Ruhestatt gefunden, fern von Men-
schen. Dicke Wälder haben sie umzäunt, daß kein
storblich Auge durchdringt. Neid und Stolz und
Bosheit haben diese Stätte nie betreten. Nur ein
Grab ist da, und eine Hütte, und ein Leidender.
Auf dem Grabe hab ich jüngst gesessen, und der
Leidende hat mich umarmt, und ist mein Bruder.
Er wünscht auch zu sterben. Und nun will ich hin-
gehn, und mit ihm vom Tode reden, und dann
soll er mich begraben, und das Grab nicht schlies-



ſterbe! — Oder ſchmachtet deine Seele noch in
ihren Banden; iſt der Kerker des Lebens noch nicht
durchgebrochen; o ſo bring ein Engel dir die Seuf-
zer, und den Hauch der Liebe, den ich hier aufs
Blatt hin hauche!

Engel, oder Menſch, ich gruͤſſe dich, umarme
dich mit meiner Seele. Ach, wir leiden viel, Ge-
liebte! Doch mir waͤre wohl, wenn du nur
uͤberwunden haͤtteſt! Wiß! ich habe dich geſucht
mit Thraͤnen, und dich nicht gefunden! Wiß! ich
rannte Waͤlder durch, und lechzete vor Ohnmacht,
und ich hab dich nicht gefunden! Ach, ich glaubte
dich zu finden, aber eine Wolke barg dich meinen
Augen. Nun iſt meine Seele truͤb, und wuͤnſcht
zu ſterben.

Jch hab eine Ruheſtatt gefunden, fern von Men-
ſchen. Dicke Waͤlder haben ſie umzaͤunt, daß kein
ſtorblich Auge durchdringt. Neid und Stolz und
Bosheit haben dieſe Staͤtte nie betreten. Nur ein
Grab iſt da, und eine Huͤtte, und ein Leidender.
Auf dem Grabe hab ich juͤngſt geſeſſen, und der
Leidende hat mich umarmt, und iſt mein Bruder.
Er wuͤnſcht auch zu ſterben. Und nun will ich hin-
gehn, und mit ihm vom Tode reden, und dann
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[975/0555] ſterbe! — Oder ſchmachtet deine Seele noch in ihren Banden; iſt der Kerker des Lebens noch nicht durchgebrochen; o ſo bring ein Engel dir die Seuf- zer, und den Hauch der Liebe, den ich hier aufs Blatt hin hauche! Engel, oder Menſch, ich gruͤſſe dich, umarme dich mit meiner Seele. Ach, wir leiden viel, Ge- liebte! Doch mir waͤre wohl, wenn du nur uͤberwunden haͤtteſt! Wiß! ich habe dich geſucht mit Thraͤnen, und dich nicht gefunden! Wiß! ich rannte Waͤlder durch, und lechzete vor Ohnmacht, und ich hab dich nicht gefunden! Ach, ich glaubte dich zu finden, aber eine Wolke barg dich meinen Augen. Nun iſt meine Seele truͤb, und wuͤnſcht zu ſterben. Jch hab eine Ruheſtatt gefunden, fern von Men- ſchen. Dicke Waͤlder haben ſie umzaͤunt, daß kein ſtorblich Auge durchdringt. Neid und Stolz und Bosheit haben dieſe Staͤtte nie betreten. Nur ein Grab iſt da, und eine Huͤtte, und ein Leidender. Auf dem Grabe hab ich juͤngſt geſeſſen, und der Leidende hat mich umarmt, und iſt mein Bruder. Er wuͤnſcht auch zu ſterben. Und nun will ich hin- gehn, und mit ihm vom Tode reden, und dann ſoll er mich begraben, und das Grab nicht ſchlieſ-

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 975. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/555>, abgerufen am 25.04.2024.