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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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Hindernisse, sie jemals zu erhalten, schwanden vor
ihm weg. Er fühlte sich zu allem stark, und sagte,
kein Mensch solle sie ihm rauben. P. Philipp
hatte sich dieser Wendung nicht versehen; er war
gesinnt gewesen, ihm noch etwas Lehren auf den
Weg zu geben, sich in sein Schicksal zu finden,
und nach und nach ihr Bild aus seinem Herzen zu
entfernen; aber er sah wohl, daß dieses jetzt übel
angebracht seyn, und seine Leidenschaft mehr erhiz-
zen würde; er beschloß also, ihm lieber davon zu
schreiben, da ohnedieß Briese mehr Eindruck ma-
chen, als Reden, weil man sie öfter lesen, und die
darin enthaltenen Ermahnungen mehr überdenken
kann. Er bat Kronhelm, ihm zuweilen zu schrei-
ben, und versprach, es auch zu thun. Kronhelm
nahm diesen Antrag mit Freuden und Dankbar-
keit an. -- Um zehn Uhr nahmen sie von einan-
der Abschied. Beyde sprachen wenig, weil Thrä-
nen ihre Reden erstickten. Gott sey mit dir, mein
Sohn! sagte Philipp, und umarmte Kronhelm.
Dieser sah seinen Freund und Lehrer noch einmal
an, drückte ihm mit unaussprechlicher Empfindung
die Hand, und gieng mit Siegwart schweigend
weg. -- Als er auf sein Zimmer kam, stand er
ans Fenster, sah stillschweigend den Mond, und



Hinderniſſe, ſie jemals zu erhalten, ſchwanden vor
ihm weg. Er fuͤhlte ſich zu allem ſtark, und ſagte,
kein Menſch ſolle ſie ihm rauben. P. Philipp
hatte ſich dieſer Wendung nicht verſehen; er war
geſinnt geweſen, ihm noch etwas Lehren auf den
Weg zu geben, ſich in ſein Schickſal zu finden,
und nach und nach ihr Bild aus ſeinem Herzen zu
entfernen; aber er ſah wohl, daß dieſes jetzt uͤbel
angebracht ſeyn, und ſeine Leidenſchaft mehr erhiz-
zen wuͤrde; er beſchloß alſo, ihm lieber davon zu
ſchreiben, da ohnedieß Brieſe mehr Eindruck ma-
chen, als Reden, weil man ſie oͤfter leſen, und die
darin enthaltenen Ermahnungen mehr uͤberdenken
kann. Er bat Kronhelm, ihm zuweilen zu ſchrei-
ben, und verſprach, es auch zu thun. Kronhelm
nahm dieſen Antrag mit Freuden und Dankbar-
keit an. — Um zehn Uhr nahmen ſie von einan-
der Abſchied. Beyde ſprachen wenig, weil Thraͤ-
nen ihre Reden erſtickten. Gott ſey mit dir, mein
Sohn! ſagte Philipp, und umarmte Kronhelm.
Dieſer ſah ſeinen Freund und Lehrer noch einmal
an, druͤckte ihm mit unausſprechlicher Empfindung
die Hand, und gieng mit Siegwart ſchweigend
weg. — Als er auf ſein Zimmer kam, ſtand er
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[475/0055] Hinderniſſe, ſie jemals zu erhalten, ſchwanden vor ihm weg. Er fuͤhlte ſich zu allem ſtark, und ſagte, kein Menſch ſolle ſie ihm rauben. P. Philipp hatte ſich dieſer Wendung nicht verſehen; er war geſinnt geweſen, ihm noch etwas Lehren auf den Weg zu geben, ſich in ſein Schickſal zu finden, und nach und nach ihr Bild aus ſeinem Herzen zu entfernen; aber er ſah wohl, daß dieſes jetzt uͤbel angebracht ſeyn, und ſeine Leidenſchaft mehr erhiz- zen wuͤrde; er beſchloß alſo, ihm lieber davon zu ſchreiben, da ohnedieß Brieſe mehr Eindruck ma- chen, als Reden, weil man ſie oͤfter leſen, und die darin enthaltenen Ermahnungen mehr uͤberdenken kann. Er bat Kronhelm, ihm zuweilen zu ſchrei- ben, und verſprach, es auch zu thun. Kronhelm nahm dieſen Antrag mit Freuden und Dankbar- keit an. — Um zehn Uhr nahmen ſie von einan- der Abſchied. Beyde ſprachen wenig, weil Thraͤ- nen ihre Reden erſtickten. Gott ſey mit dir, mein Sohn! ſagte Philipp, und umarmte Kronhelm. Dieſer ſah ſeinen Freund und Lehrer noch einmal an, druͤckte ihm mit unausſprechlicher Empfindung die Hand, und gieng mit Siegwart ſchweigend weg. — Als er auf ſein Zimmer kam, ſtand er ans Fenſter, ſah ſtillſchweigend den Mond, und

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 475. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/55>, abgerufen am 19.04.2024.