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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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meinen Busen schliessen, und dich trösten könnte,
wo kein Mensch wohnt, wo nur Engel unsre
Liebe sehen und sich ihrer freuen würden! Ach
Mariane, Mariane, wenn du hier wärst! --
Aber ich verschmacht in dieser Wildnis, und kein
Mensch beweint mich, und kein Engel kann mich
retten! -- Gott, ach Gott, erhalt mich meiner
Mariane!

So dachte er, stund dann wieder auf, und
gieng weiter. Je tiefer die Sonn am Himmel
hinunter sank, desto dunkler wards im Tannen-
wald, so daß ihm endlich zu grauen anfieng.
Je länger er umher lief, desto weiter verlohr er
sich im Wald, und er wollte schon dran ver-
zweifeln, sich jemals wieder herauszufinden, als
er endlich unter dem dicksten Tannengebüsch eine
Hütte wahrnahm. Bey diesem Anblick ward ihm,
als ob ein Engel ihm erschiene. Er eilte auf die
Hütte zu, fand aber die Thüre verschlossen. Er
ward darüber sehr betroffen, doch hoffte er, daß
ihr Besitzer bald zurückkommen würde, und setz-
te sich auf die gegenüber angelegte Rasenbank.
Die Hütte war fast blos von Erde aufgebaut, das
Dach mit Tannenreiß bedeckt, und statt der Fen-
ster waren an der Seite nur ein paar kleine Oeff-



meinen Buſen ſchlieſſen, und dich troͤſten koͤnnte,
wo kein Menſch wohnt, wo nur Engel unſre
Liebe ſehen und ſich ihrer freuen wuͤrden! Ach
Mariane, Mariane, wenn du hier waͤrſt! —
Aber ich verſchmacht in dieſer Wildnis, und kein
Menſch beweint mich, und kein Engel kann mich
retten! — Gott, ach Gott, erhalt mich meiner
Mariane!

So dachte er, ſtund dann wieder auf, und
gieng weiter. Je tiefer die Sonn am Himmel
hinunter ſank, deſto dunkler wards im Tannen-
wald, ſo daß ihm endlich zu grauen anfieng.
Je laͤnger er umher lief, deſto weiter verlohr er
ſich im Wald, und er wollte ſchon dran ver-
zweifeln, ſich jemals wieder herauszufinden, als
er endlich unter dem dickſten Tannengebuͤſch eine
Huͤtte wahrnahm. Bey dieſem Anblick ward ihm,
als ob ein Engel ihm erſchiene. Er eilte auf die
Huͤtte zu, fand aber die Thuͤre verſchloſſen. Er
ward daruͤber ſehr betroffen, doch hoffte er, daß
ihr Beſitzer bald zuruͤckkommen wuͤrde, und ſetz-
te ſich auf die gegenuͤber angelegte Raſenbank.
Die Huͤtte war faſt blos von Erde aufgebaut, das
Dach mit Tannenreiß bedeckt, und ſtatt der Fen-
ſter waren an der Seite nur ein paar kleine Oeff-

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[941/0521] meinen Buſen ſchlieſſen, und dich troͤſten koͤnnte, wo kein Menſch wohnt, wo nur Engel unſre Liebe ſehen und ſich ihrer freuen wuͤrden! Ach Mariane, Mariane, wenn du hier waͤrſt! — Aber ich verſchmacht in dieſer Wildnis, und kein Menſch beweint mich, und kein Engel kann mich retten! — Gott, ach Gott, erhalt mich meiner Mariane! So dachte er, ſtund dann wieder auf, und gieng weiter. Je tiefer die Sonn am Himmel hinunter ſank, deſto dunkler wards im Tannen- wald, ſo daß ihm endlich zu grauen anfieng. Je laͤnger er umher lief, deſto weiter verlohr er ſich im Wald, und er wollte ſchon dran ver- zweifeln, ſich jemals wieder herauszufinden, als er endlich unter dem dickſten Tannengebuͤſch eine Huͤtte wahrnahm. Bey dieſem Anblick ward ihm, als ob ein Engel ihm erſchiene. Er eilte auf die Huͤtte zu, fand aber die Thuͤre verſchloſſen. Er ward daruͤber ſehr betroffen, doch hoffte er, daß ihr Beſitzer bald zuruͤckkommen wuͤrde, und ſetz- te ſich auf die gegenuͤber angelegte Raſenbank. Die Huͤtte war faſt blos von Erde aufgebaut, das Dach mit Tannenreiß bedeckt, und ſtatt der Fen- ſter waren an der Seite nur ein paar kleine Oeff-

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 941. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/521>, abgerufen am 19.04.2024.