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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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belte etwas an der Thüre. Er machte auf, und
die beyden ältern Kinder warens. Sie boten ihm
die Hand, und wünschten ihm freundlich einen gu-
ten Morgen. Er setzte sich aufs Bett, und sah
ihren unschuldigen Spielen zu. Gott! dachte er,
wie vergnügt sind diese Kinder! Ehmals war ich
auch so; warum blieb ich nicht ein Kind! Haben
wir denn die Vernunft nur zu unserm Unglück?
Wär ich doch noch ein Kind! Er ward dabey so
bewegt, daß ihm Thränen aus den Augen stürzten.
Das andre Kind, ein Mädchen von acht Jahren,
sah es, und kam auf ihn zu. Es weinte auch,
nahm seine Hand, stieg auf seinen Knien hinauf,
um ihm |die Thränen mit dem kleinen Händchen
wegzuwischen, und sagte: Must nicht weinen!
Hab ich dir denn was gethan? Jch bin ja brav.
Der Knabe sprang auch herbey, blieb ein paar
Schritte weit von ihm stehen, sah ihn mitleidig
an, und sagte: Was fehlt dir, daß du so ein Ge-
sicht machst? Soll ich dir Blumen holen? Jch hab
schöne im Garten. -- Du liebes Kind, dachte
Siegwart, und setzte es aufs andre Knie; wenn
mir Blumen helfen könnten! Ach guter Gott! mach
mich wieder zum Kind! Deinen Kindern ist so wohl.
Laß mich wieder Freude haben über Blumen! Er



belte etwas an der Thuͤre. Er machte auf, und
die beyden aͤltern Kinder warens. Sie boten ihm
die Hand, und wuͤnſchten ihm freundlich einen gu-
ten Morgen. Er ſetzte ſich aufs Bett, und ſah
ihren unſchuldigen Spielen zu. Gott! dachte er,
wie vergnuͤgt ſind dieſe Kinder! Ehmals war ich
auch ſo; warum blieb ich nicht ein Kind! Haben
wir denn die Vernunft nur zu unſerm Ungluͤck?
Waͤr ich doch noch ein Kind! Er ward dabey ſo
bewegt, daß ihm Thraͤnen aus den Augen ſtuͤrzten.
Das andre Kind, ein Maͤdchen von acht Jahren,
ſah es, und kam auf ihn zu. Es weinte auch,
nahm ſeine Hand, ſtieg auf ſeinen Knien hinauf,
um ihm |die Thraͤnen mit dem kleinen Haͤndchen
wegzuwiſchen, und ſagte: Muſt nicht weinen!
Hab ich dir denn was gethan? Jch bin ja brav.
Der Knabe ſprang auch herbey, blieb ein paar
Schritte weit von ihm ſtehen, ſah ihn mitleidig
an, und ſagte: Was fehlt dir, daß du ſo ein Ge-
ſicht machſt? Soll ich dir Blumen holen? Jch hab
ſchoͤne im Garten. — Du liebes Kind, dachte
Siegwart, und ſetzte es aufs andre Knie; wenn
mir Blumen helfen koͤnnten! Ach guter Gott! mach
mich wieder zum Kind! Deinen Kindern iſt ſo wohl.
Laß mich wieder Freude haben uͤber Blumen! Er

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[935/0515] belte etwas an der Thuͤre. Er machte auf, und die beyden aͤltern Kinder warens. Sie boten ihm die Hand, und wuͤnſchten ihm freundlich einen gu- ten Morgen. Er ſetzte ſich aufs Bett, und ſah ihren unſchuldigen Spielen zu. Gott! dachte er, wie vergnuͤgt ſind dieſe Kinder! Ehmals war ich auch ſo; warum blieb ich nicht ein Kind! Haben wir denn die Vernunft nur zu unſerm Ungluͤck? Waͤr ich doch noch ein Kind! Er ward dabey ſo bewegt, daß ihm Thraͤnen aus den Augen ſtuͤrzten. Das andre Kind, ein Maͤdchen von acht Jahren, ſah es, und kam auf ihn zu. Es weinte auch, nahm ſeine Hand, ſtieg auf ſeinen Knien hinauf, um ihm |die Thraͤnen mit dem kleinen Haͤndchen wegzuwiſchen, und ſagte: Muſt nicht weinen! Hab ich dir denn was gethan? Jch bin ja brav. Der Knabe ſprang auch herbey, blieb ein paar Schritte weit von ihm ſtehen, ſah ihn mitleidig an, und ſagte: Was fehlt dir, daß du ſo ein Ge- ſicht machſt? Soll ich dir Blumen holen? Jch hab ſchoͤne im Garten. — Du liebes Kind, dachte Siegwart, und ſetzte es aufs andre Knie; wenn mir Blumen helfen koͤnnten! Ach guter Gott! mach mich wieder zum Kind! Deinen Kindern iſt ſo wohl. Laß mich wieder Freude haben uͤber Blumen! Er

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 935. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/515>, abgerufen am 25.04.2024.