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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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Siegwart hatte wol hundertmal bey Lesung die-
ses Briefes abbrechen müssen. Oft schoß ein
Strom von Thränen drauf, daß er keinen Buch-
staben mehr von dem andern unterscheiden konn-
te. Oft fieng er an zu zittern, daß er den Brief
nicht mehr zu halten vermochte. Oft vergiengen
ihm Gesicht und Gehör, und der kalte Schweiß
stand ihm auf der Stirne, daß er halb ohnmäch-
tig auf den Stuhl zurück sank. Oft sprang er
wieder auf, rang die Hände, und rief: Gott!
Gott! Gott! -- Als er endlich den Brief ganz
zu Ende gelesen hatte, sank er matt und sinnlos
auf den Stuhl, wuste nichts mehr von sich selbst,
und lag so bey einer Viertelstunde da. Als er
wieder etwas zu sich selber kam, und sah, daß
es schon ganz dunkel geworden war, wollt er
aufstehn, aber er hatte keine Kräfte. Alle Glie-
der zitterten ihm, sein Gesicht war eiskalt, und
es ward ihm wieder einmal um das andre schwind-
lich. Endlich grif er mit vieler Mühe nach der
Glocke auf dem Tisch, und klingelte. Die Auf-
wärterin kam. Er foderte Licht. Jesus, Ma-
ria, und Joseph! rief sie aus, als sie das Licht
brachte, was fehlt Jhnen? Sie sehn ja aus, wie
der Tod! Soll ich zum Herrn Doktor laufen? --



Siegwart hatte wol hundertmal bey Leſung die-
ſes Briefes abbrechen muͤſſen. Oft ſchoß ein
Strom von Thraͤnen drauf, daß er keinen Buch-
ſtaben mehr von dem andern unterſcheiden konn-
te. Oft fieng er an zu zittern, daß er den Brief
nicht mehr zu halten vermochte. Oft vergiengen
ihm Geſicht und Gehoͤr, und der kalte Schweiß
ſtand ihm auf der Stirne, daß er halb ohnmaͤch-
tig auf den Stuhl zuruͤck ſank. Oft ſprang er
wieder auf, rang die Haͤnde, und rief: Gott!
Gott! Gott! — Als er endlich den Brief ganz
zu Ende geleſen hatte, ſank er matt und ſinnlos
auf den Stuhl, wuſte nichts mehr von ſich ſelbſt,
und lag ſo bey einer Viertelſtunde da. Als er
wieder etwas zu ſich ſelber kam, und ſah, daß
es ſchon ganz dunkel geworden war, wollt er
aufſtehn, aber er hatte keine Kraͤfte. Alle Glie-
der zitterten ihm, ſein Geſicht war eiskalt, und
es ward ihm wieder einmal um das andre ſchwind-
lich. Endlich grif er mit vieler Muͤhe nach der
Glocke auf dem Tiſch, und klingelte. Die Auf-
waͤrterin kam. Er foderte Licht. Jeſus, Ma-
ria, und Joſeph! rief ſie aus, als ſie das Licht
brachte, was fehlt Jhnen? Sie ſehn ja aus, wie
der Tod! Soll ich zum Herrn Doktor laufen? —

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[917/0497] Siegwart hatte wol hundertmal bey Leſung die- ſes Briefes abbrechen muͤſſen. Oft ſchoß ein Strom von Thraͤnen drauf, daß er keinen Buch- ſtaben mehr von dem andern unterſcheiden konn- te. Oft fieng er an zu zittern, daß er den Brief nicht mehr zu halten vermochte. Oft vergiengen ihm Geſicht und Gehoͤr, und der kalte Schweiß ſtand ihm auf der Stirne, daß er halb ohnmaͤch- tig auf den Stuhl zuruͤck ſank. Oft ſprang er wieder auf, rang die Haͤnde, und rief: Gott! Gott! Gott! — Als er endlich den Brief ganz zu Ende geleſen hatte, ſank er matt und ſinnlos auf den Stuhl, wuſte nichts mehr von ſich ſelbſt, und lag ſo bey einer Viertelſtunde da. Als er wieder etwas zu ſich ſelber kam, und ſah, daß es ſchon ganz dunkel geworden war, wollt er aufſtehn, aber er hatte keine Kraͤfte. Alle Glie- der zitterten ihm, ſein Geſicht war eiskalt, und es ward ihm wieder einmal um das andre ſchwind- lich. Endlich grif er mit vieler Muͤhe nach der Glocke auf dem Tiſch, und klingelte. Die Auf- waͤrterin kam. Er foderte Licht. Jeſus, Ma- ria, und Joſeph! rief ſie aus, als ſie das Licht brachte, was fehlt Jhnen? Sie ſehn ja aus, wie der Tod! Soll ich zum Herrn Doktor laufen? —

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 917. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/497>, abgerufen am 19.04.2024.