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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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sen Nacht so sehr abgemattet war, so legte er sich,
nach dem Abendessen, von dem er ohnedies wenig
genoß, frühzeitig zu Bette, und ward durch ei-
nen sanften Schlaf erquickt; nur gegen Morgen
ängstigten ihn fürchterliche Träume; und, als er
aufwachte, war sein Bett von Thränen naß.
Er konnte nun |seinen Schmetz ganz ausweinen.
Gott! dachte er, jetzt erwach ich, als eine vater-
und mutterlose Waise. Gott, erbarm dich meiner,
und hilf mir! Leit du mich durchs Leben, weil
mich sonst niemand leiten kann! Sey du ganz
mein Vater! Jn deine Hände sink ich; o verwirf
mich nicht! Sey du mein Schutzgeist, o mein Va-
ter! Vergiß deines Sohnes nicht im Himmel. Jch
will dir mein ganzes Leben durch für deine Liebe
danken. Du hast alles an mir gethan. Mein
ganzes Leben soll Dank gegen dich seyn!

Er hörte schon im Hause ein Geräusch, das
Zurüstungen zum Leichenbegängniß bedeutete. Er
gieng ins Wohnzimmer. Das Gesind im Hause
sah ihn stumm und wehmüthig an, und gab ihm
einen guten Morgen, der von ihrem Mitleid zeug-
te. Ein paar benachbarte Beamte, die sein Va-
ter sehr geliebt hatte, kamen, und bezeugten ihm
ihr Beyleid. Sie wollten ihren todten Freund



ſen Nacht ſo ſehr abgemattet war, ſo legte er ſich,
nach dem Abendeſſen, von dem er ohnedies wenig
genoß, fruͤhzeitig zu Bette, und ward durch ei-
nen ſanften Schlaf erquickt; nur gegen Morgen
aͤngſtigten ihn fuͤrchterliche Traͤume; und, als er
aufwachte, war ſein Bett von Thraͤnen naß.
Er konnte nun |ſeinen Schmetz ganz ausweinen.
Gott! dachte er, jetzt erwach ich, als eine vater-
und mutterloſe Waiſe. Gott, erbarm dich meiner,
und hilf mir! Leit du mich durchs Leben, weil
mich ſonſt niemand leiten kann! Sey du ganz
mein Vater! Jn deine Haͤnde ſink ich; o verwirf
mich nicht! Sey du mein Schutzgeiſt, o mein Va-
ter! Vergiß deines Sohnes nicht im Himmel. Jch
will dir mein ganzes Leben durch fuͤr deine Liebe
danken. Du haſt alles an mir gethan. Mein
ganzes Leben ſoll Dank gegen dich ſeyn!

Er hoͤrte ſchon im Hauſe ein Geraͤuſch, das
Zuruͤſtungen zum Leichenbegaͤngniß bedeutete. Er
gieng ins Wohnzimmer. Das Geſind im Hauſe
ſah ihn ſtumm und wehmuͤthig an, und gab ihm
einen guten Morgen, der von ihrem Mitleid zeug-
te. Ein paar benachbarte Beamte, die ſein Va-
ter ſehr geliebt hatte, kamen, und bezeugten ihm
ihr Beyleid. Sie wollten ihren todten Freund

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[879/0459] ſen Nacht ſo ſehr abgemattet war, ſo legte er ſich, nach dem Abendeſſen, von dem er ohnedies wenig genoß, fruͤhzeitig zu Bette, und ward durch ei- nen ſanften Schlaf erquickt; nur gegen Morgen aͤngſtigten ihn fuͤrchterliche Traͤume; und, als er aufwachte, war ſein Bett von Thraͤnen naß. Er konnte nun |ſeinen Schmetz ganz ausweinen. Gott! dachte er, jetzt erwach ich, als eine vater- und mutterloſe Waiſe. Gott, erbarm dich meiner, und hilf mir! Leit du mich durchs Leben, weil mich ſonſt niemand leiten kann! Sey du ganz mein Vater! Jn deine Haͤnde ſink ich; o verwirf mich nicht! Sey du mein Schutzgeiſt, o mein Va- ter! Vergiß deines Sohnes nicht im Himmel. Jch will dir mein ganzes Leben durch fuͤr deine Liebe danken. Du haſt alles an mir gethan. Mein ganzes Leben ſoll Dank gegen dich ſeyn! Er hoͤrte ſchon im Hauſe ein Geraͤuſch, das Zuruͤſtungen zum Leichenbegaͤngniß bedeutete. Er gieng ins Wohnzimmer. Das Geſind im Hauſe ſah ihn ſtumm und wehmuͤthig an, und gab ihm einen guten Morgen, der von ihrem Mitleid zeug- te. Ein paar benachbarte Beamte, die ſein Va- ter ſehr geliebt hatte, kamen, und bezeugten ihm ihr Beyleid. Sie wollten ihren todten Freund

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 879. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/459>, abgerufen am 25.04.2024.