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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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bare Gewalt als gegen List und Kunstgriffe; und
mehr, wenn die Gefahr schon da war, als wenn
sie erst noch von ferne drohte.

Den Tag darauf wartete er mit der grösten
Sehnsucht auf einen Brief von seinem Vater.
Der Briesträger kam endlich. Mit klopfendem
Herzen sprang er ihm die Treppe hinab entgegen;
nahm den Brief an, ohne die Ueberschrift zu le-
sen, und brach ihn auf. Wie erschrack er, als er
statt der Handschrift seines Vaters, des jungen
Grünbachs seine sah, der ihm berichtete: Er wer-
de nun gewiß an Michaelis nach Jngolstadt kom-
men, da er an Ostern daran verhindert worden
sey. Siegwart warf den Brief weg, eh er ihn
ausgelesen hatte, und machte sich tausend schreckli-
che Vorstellungen, warum wol sein Vater nicht
geschrieben haben möge, da doch schon vor vier
Posttagen ein Brief hätte ankommen können. Mit
alle seinem Nachsinnen bracht er doch nichts heraus,
als tausenderley Muthmassungen, deren immer ei-
ne die andre wieder aufhob.

Voll verdrüßlicher Grillen und übler Laune gieng
er aufs Landguth hinaus. Mariane sahs ihm bald
an, daß ihm etwas fehlte. Anfangs vermuthete
sie, er habe einen verdrüßlichen Brief bekommen;



bare Gewalt als gegen Liſt und Kunſtgriffe; und
mehr, wenn die Gefahr ſchon da war, als wenn
ſie erſt noch von ferne drohte.

Den Tag darauf wartete er mit der groͤſten
Sehnſucht auf einen Brief von ſeinem Vater.
Der Brieſtraͤger kam endlich. Mit klopfendem
Herzen ſprang er ihm die Treppe hinab entgegen;
nahm den Brief an, ohne die Ueberſchrift zu le-
ſen, und brach ihn auf. Wie erſchrack er, als er
ſtatt der Handſchrift ſeines Vaters, des jungen
Gruͤnbachs ſeine ſah, der ihm berichtete: Er wer-
de nun gewiß an Michaelis nach Jngolſtadt kom-
men, da er an Oſtern daran verhindert worden
ſey. Siegwart warf den Brief weg, eh er ihn
ausgeleſen hatte, und machte ſich tauſend ſchreckli-
che Vorſtellungen, warum wol ſein Vater nicht
geſchrieben haben moͤge, da doch ſchon vor vier
Poſttagen ein Brief haͤtte ankommen koͤnnen. Mit
alle ſeinem Nachſinnen bracht er doch nichts heraus,
als tauſenderley Muthmaſſungen, deren immer ei-
ne die andre wieder aufhob.

Voll verdruͤßlicher Grillen und uͤbler Laune gieng
er aufs Landguth hinaus. Mariane ſahs ihm bald
an, daß ihm etwas fehlte. Anfangs vermuthete
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[866/0446] bare Gewalt als gegen Liſt und Kunſtgriffe; und mehr, wenn die Gefahr ſchon da war, als wenn ſie erſt noch von ferne drohte. Den Tag darauf wartete er mit der groͤſten Sehnſucht auf einen Brief von ſeinem Vater. Der Brieſtraͤger kam endlich. Mit klopfendem Herzen ſprang er ihm die Treppe hinab entgegen; nahm den Brief an, ohne die Ueberſchrift zu le- ſen, und brach ihn auf. Wie erſchrack er, als er ſtatt der Handſchrift ſeines Vaters, des jungen Gruͤnbachs ſeine ſah, der ihm berichtete: Er wer- de nun gewiß an Michaelis nach Jngolſtadt kom- men, da er an Oſtern daran verhindert worden ſey. Siegwart warf den Brief weg, eh er ihn ausgeleſen hatte, und machte ſich tauſend ſchreckli- che Vorſtellungen, warum wol ſein Vater nicht geſchrieben haben moͤge, da doch ſchon vor vier Poſttagen ein Brief haͤtte ankommen koͤnnen. Mit alle ſeinem Nachſinnen bracht er doch nichts heraus, als tauſenderley Muthmaſſungen, deren immer ei- ne die andre wieder aufhob. Voll verdruͤßlicher Grillen und uͤbler Laune gieng er aufs Landguth hinaus. Mariane ſahs ihm bald an, daß ihm etwas fehlte. Anfangs vermuthete ſie, er habe einen verdruͤßlichen Brief bekommen;

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 866. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/446>, abgerufen am 19.04.2024.