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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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Karoline und ihre Tante kamen ins Wäldchen, eh
noch Mariane ausgesprochen hatte. Sie bedaurten
zusammen den schönen Apfelbaum, und das ganze
Wäldchen, das von den Schlossen sehr viel gelitten
hatte. Ueberall lagen Zweige und Früchte, manch-
mal war die Rinde mit abgeschält. Dieser Anblick
machte sie traurig, und still. Sie giengen wieder
nach dem Garten. Unterwegs sagte Mariane ih-
rem Siegwaat, in acht Tagen werd ihr Vater
wieder kommen, und sie selbst zieh in vier Tagen
wieder in die Stadt. Er mußte versprechen, we-
nigstens noch zweymal herauszukommen; denn heut
wollte er in die Stadt, weil er morgen gewiß ei-
nen Brief von seinem Vater erwartete.

Gegen Abend gieng er also nach der Stadt,
und hatte wegen der Nachricht vom Hofrath
Schrager tausend unruhige Gedanken, denn er
glaubte gewiß, daß seine Reise nach dem Bad die
Verheyrathung mit Marianen zur Absicht habe.
Marianens Versicherung, daß sie ihm treu bleiben
wolle, konnte ihn nicht genug beruhigen, denn
er wußte, wie viel Künste man anwenden könne,
ein Mädchen durch List und durch Gewalt auf
andre Gedanken zu bringen. Er hatte Muth ge-
nug, alles zu unternehmen, aber mehr gegen offen-



Karoline und ihre Tante kamen ins Waͤldchen, eh
noch Mariane ausgeſprochen hatte. Sie bedaurten
zuſammen den ſchoͤnen Apfelbaum, und das ganze
Waͤldchen, das von den Schloſſen ſehr viel gelitten
hatte. Ueberall lagen Zweige und Fruͤchte, manch-
mal war die Rinde mit abgeſchaͤlt. Dieſer Anblick
machte ſie traurig, und ſtill. Sie giengen wieder
nach dem Garten. Unterwegs ſagte Mariane ih-
rem Siegwaat, in acht Tagen werd ihr Vater
wieder kommen, und ſie ſelbſt zieh in vier Tagen
wieder in die Stadt. Er mußte verſprechen, we-
nigſtens noch zweymal herauszukommen; denn heut
wollte er in die Stadt, weil er morgen gewiß ei-
nen Brief von ſeinem Vater erwartete.

Gegen Abend gieng er alſo nach der Stadt,
und hatte wegen der Nachricht vom Hofrath
Schrager tauſend unruhige Gedanken, denn er
glaubte gewiß, daß ſeine Reiſe nach dem Bad die
Verheyrathung mit Marianen zur Abſicht habe.
Marianens Verſicherung, daß ſie ihm treu bleiben
wolle, konnte ihn nicht genug beruhigen, denn
er wußte, wie viel Kuͤnſte man anwenden koͤnne,
ein Maͤdchen durch Liſt und durch Gewalt auf
andre Gedanken zu bringen. Er hatte Muth ge-
nug, alles zu unternehmen, aber mehr gegen offen-

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[865/0445] Karoline und ihre Tante kamen ins Waͤldchen, eh noch Mariane ausgeſprochen hatte. Sie bedaurten zuſammen den ſchoͤnen Apfelbaum, und das ganze Waͤldchen, das von den Schloſſen ſehr viel gelitten hatte. Ueberall lagen Zweige und Fruͤchte, manch- mal war die Rinde mit abgeſchaͤlt. Dieſer Anblick machte ſie traurig, und ſtill. Sie giengen wieder nach dem Garten. Unterwegs ſagte Mariane ih- rem Siegwaat, in acht Tagen werd ihr Vater wieder kommen, und ſie ſelbſt zieh in vier Tagen wieder in die Stadt. Er mußte verſprechen, we- nigſtens noch zweymal herauszukommen; denn heut wollte er in die Stadt, weil er morgen gewiß ei- nen Brief von ſeinem Vater erwartete. Gegen Abend gieng er alſo nach der Stadt, und hatte wegen der Nachricht vom Hofrath Schrager tauſend unruhige Gedanken, denn er glaubte gewiß, daß ſeine Reiſe nach dem Bad die Verheyrathung mit Marianen zur Abſicht habe. Marianens Verſicherung, daß ſie ihm treu bleiben wolle, konnte ihn nicht genug beruhigen, denn er wußte, wie viel Kuͤnſte man anwenden koͤnne, ein Maͤdchen durch Liſt und durch Gewalt auf andre Gedanken zu bringen. Er hatte Muth ge- nug, alles zu unternehmen, aber mehr gegen offen-

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 865. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/445>, abgerufen am 19.04.2024.