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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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sen hatte, so muste sie mit ihm essen. Erst gab
er ihr einen Löffel voll, und dann nahm er den
andern. -- Der Mond wird wol bald aufgehn-
sagte die Tante, dort hinten wirds schon hell.
Sie giengen in den Garten, und blickten immer
gegen Morgen, wo der Mond aufgieng. Endlich
ward ein Wölkchen gantz vergüldet; sie giengen
an einen etwas erhöhten Ort, und stellten sich
auf die Zehen, um den Mond sogleich zu
sehen. Er kommt, er kommt! rief end-
lich Siegwart voller Freuden aus. Ja, er glänzt
schon an Jhrem Hut, sagte Mariane. Nun kam
er in seiner ganzen stillen Majestät herauf, und
beglänzte den ganzen Garten. Die Blumen und
Gewächse schimmerten im Thau, und verbreite-
ten ihren lieblichen Geruch umher. Karoline sah
sehr traurig aus. Was fehlt dir, meine Liebe?
fragte Mariane. Ach, antwortete sie; ich denke
jener Zeiten. Hier gieng ich vor drey Jahren
noch mit meinem Wilhelm, und nun scheint der
Mond seit zwey Jahren schon auf sein Grab.
Sieh nur! wie er so traurig ist, und hinter Wol-
ken geht! Ach, Mariane, möchtest du das nie
erfahren! Tausendmal hab ich mir gewünscht, nie
geliebt zu haben! Alle schwiegen, und verlohren



ſen hatte, ſo muſte ſie mit ihm eſſen. Erſt gab
er ihr einen Loͤffel voll, und dann nahm er den
andern. — Der Mond wird wol bald aufgehn-
ſagte die Tante, dort hinten wirds ſchon hell.
Sie giengen in den Garten, und blickten immer
gegen Morgen, wo der Mond aufgieng. Endlich
ward ein Woͤlkchen gantz verguͤldet; ſie giengen
an einen etwas erhoͤhten Ort, und ſtellten ſich
auf die Zehen, um den Mond ſogleich zu
ſehen. Er kommt, er kommt! rief end-
lich Siegwart voller Freuden aus. Ja, er glaͤnzt
ſchon an Jhrem Hut, ſagte Mariane. Nun kam
er in ſeiner ganzen ſtillen Majeſtaͤt herauf, und
beglaͤnzte den ganzen Garten. Die Blumen und
Gewaͤchſe ſchimmerten im Thau, und verbreite-
ten ihren lieblichen Geruch umher. Karoline ſah
ſehr traurig aus. Was fehlt dir, meine Liebe?
fragte Mariane. Ach, antwortete ſie; ich denke
jener Zeiten. Hier gieng ich vor drey Jahren
noch mit meinem Wilhelm, und nun ſcheint der
Mond ſeit zwey Jahren ſchon auf ſein Grab.
Sieh nur! wie er ſo traurig iſt, und hinter Wol-
ken geht! Ach, Mariane, moͤchteſt du das nie
erfahren! Tauſendmal hab ich mir gewuͤnſcht, nie
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[848/0428] ſen hatte, ſo muſte ſie mit ihm eſſen. Erſt gab er ihr einen Loͤffel voll, und dann nahm er den andern. — Der Mond wird wol bald aufgehn- ſagte die Tante, dort hinten wirds ſchon hell. Sie giengen in den Garten, und blickten immer gegen Morgen, wo der Mond aufgieng. Endlich ward ein Woͤlkchen gantz verguͤldet; ſie giengen an einen etwas erhoͤhten Ort, und ſtellten ſich auf die Zehen, um den Mond ſogleich zu ſehen. Er kommt, er kommt! rief end- lich Siegwart voller Freuden aus. Ja, er glaͤnzt ſchon an Jhrem Hut, ſagte Mariane. Nun kam er in ſeiner ganzen ſtillen Majeſtaͤt herauf, und beglaͤnzte den ganzen Garten. Die Blumen und Gewaͤchſe ſchimmerten im Thau, und verbreite- ten ihren lieblichen Geruch umher. Karoline ſah ſehr traurig aus. Was fehlt dir, meine Liebe? fragte Mariane. Ach, antwortete ſie; ich denke jener Zeiten. Hier gieng ich vor drey Jahren noch mit meinem Wilhelm, und nun ſcheint der Mond ſeit zwey Jahren ſchon auf ſein Grab. Sieh nur! wie er ſo traurig iſt, und hinter Wol- ken geht! Ach, Mariane, moͤchteſt du das nie erfahren! Tauſendmal hab ich mir gewuͤnſcht, nie geliebt zu haben! Alle ſchwiegen, und verlohren

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 848. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/428>, abgerufen am 25.04.2024.