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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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55 Jahre alt. Jhr Gesicht war sehr regelmäßig,
und zeigte noch Spuren ihrer ehemaligen Schön-
heit. Jhr blaues Auge war etwas trüb, und ver-
rieth Hang zur Melancholie. Einige Züge zeig-
ten, daß sie oft geweint, und manchen stillen
Kummer getragen haben muste. Jetzt war ihr
Gesicht zwar heiter; aber doch verrieth es immer
noch Anlage zur Schwärmerey und Wehmuth.
Jhre Reden zeugten von gleich viel Verstand,
und Empfindung. Nur die letztere schlug noch
zuweilen vor. Jch habe viel Gutes von Jhnen
gehört, sagte sie zu Siegwart. Seyn Sie mir
vielmals willkommen! Zwingen Sie sich vor mir
im geringsten nicht, und folgen Sie ganz Jhrer
Neigung! Jch weis, wie Sie mit der Jungfer
Fischern stehen, und es freut mich. Kommen Sie,
Mariane, und geben Sie ihm ihre Hand! Jch
kann mir vorstellen, was Sie fühlen müssen; ob
ich gleich in der Liebe nie so glücklich war. Da ichs
nicht seyn konnte, möcht ichs doch andre machen
können! --

Mariane drückte ihrem Jüngling seine Hand
stärker, und sah ihm freundlich ins Gesicht. Hier
ist herrlich leben, sagte sie, Gottlob, daß Sie da
sind! Tante weis, wie viel wir von Jhnen schon



55 Jahre alt. Jhr Geſicht war ſehr regelmaͤßig,
und zeigte noch Spuren ihrer ehemaligen Schoͤn-
heit. Jhr blaues Auge war etwas truͤb, und ver-
rieth Hang zur Melancholie. Einige Zuͤge zeig-
ten, daß ſie oft geweint, und manchen ſtillen
Kummer getragen haben muſte. Jetzt war ihr
Geſicht zwar heiter; aber doch verrieth es immer
noch Anlage zur Schwaͤrmerey und Wehmuth.
Jhre Reden zeugten von gleich viel Verſtand,
und Empfindung. Nur die letztere ſchlug noch
zuweilen vor. Jch habe viel Gutes von Jhnen
gehoͤrt, ſagte ſie zu Siegwart. Seyn Sie mir
vielmals willkommen! Zwingen Sie ſich vor mir
im geringſten nicht, und folgen Sie ganz Jhrer
Neigung! Jch weis, wie Sie mit der Jungfer
Fiſchern ſtehen, und es freut mich. Kommen Sie,
Mariane, und geben Sie ihm ihre Hand! Jch
kann mir vorſtellen, was Sie fuͤhlen muͤſſen; ob
ich gleich in der Liebe nie ſo gluͤcklich war. Da ichs
nicht ſeyn konnte, moͤcht ichs doch andre machen
koͤnnen! —

Mariane druͤckte ihrem Juͤngling ſeine Hand
ſtaͤrker, und ſah ihm freundlich ins Geſicht. Hier
iſt herrlich leben, ſagte ſie, Gottlob, daß Sie da
ſind! Tante weis, wie viel wir von Jhnen ſchon

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[834/0414] 55 Jahre alt. Jhr Geſicht war ſehr regelmaͤßig, und zeigte noch Spuren ihrer ehemaligen Schoͤn- heit. Jhr blaues Auge war etwas truͤb, und ver- rieth Hang zur Melancholie. Einige Zuͤge zeig- ten, daß ſie oft geweint, und manchen ſtillen Kummer getragen haben muſte. Jetzt war ihr Geſicht zwar heiter; aber doch verrieth es immer noch Anlage zur Schwaͤrmerey und Wehmuth. Jhre Reden zeugten von gleich viel Verſtand, und Empfindung. Nur die letztere ſchlug noch zuweilen vor. Jch habe viel Gutes von Jhnen gehoͤrt, ſagte ſie zu Siegwart. Seyn Sie mir vielmals willkommen! Zwingen Sie ſich vor mir im geringſten nicht, und folgen Sie ganz Jhrer Neigung! Jch weis, wie Sie mit der Jungfer Fiſchern ſtehen, und es freut mich. Kommen Sie, Mariane, und geben Sie ihm ihre Hand! Jch kann mir vorſtellen, was Sie fuͤhlen muͤſſen; ob ich gleich in der Liebe nie ſo gluͤcklich war. Da ichs nicht ſeyn konnte, moͤcht ichs doch andre machen koͤnnen! — Mariane druͤckte ihrem Juͤngling ſeine Hand ſtaͤrker, und ſah ihm freundlich ins Geſicht. Hier iſt herrlich leben, ſagte ſie, Gottlob, daß Sie da ſind! Tante weis, wie viel wir von Jhnen ſchon

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 834. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/414>, abgerufen am 23.04.2024.