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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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Um eilf Uhr kam Marianens Bruder zu ihm,
und sagte: seine Schwester würde heut allein mit
ihm auf seinen Garten gehen; ob er nicht auch hin
kommen wolle? Siegwart nahm diesen Antrag,
der ein Beweis seiner Dankbarkeit, und seiner Zu-
neigung zu ihm war, mit dem innigsten Vergnü-
gen an; und ward durch dieses Zeichen seiner Liebe
zu der grösten Offenherzigkeit verleitet, so daß er
ihm die ganze Geschichte seines eignen, und des
Herzens seiner Schwester erzählte. Joseph nahm
daran sehr vielen Antheil, und sagte: Er sey ganz
für diese Liebe, und wünsche nur, es recht bald
beweisen zu können. Von seiner Schwägerin, und
seinem Bruder, sagte er selbst, wär am meisten
zu befürchten, weil diese ihren Vater so sehr ein-
zunehmen wüßte. Doch könnte man vor den
beyden diese Liebe sehr wohl verborgen halten, weil
sie wenig aus dem Hause kämen, und vielleicht
nähme gar seine Schwägerin bald ganz von der
Welt Abschied.

Den Nachmittag um vier Uhr gieng Siegwart,
wie er bestellt war, nach dem Garten. Seine Maria-
ne, sah so zärtlich, und so schmachtend aus, als
er sie noch nie gesehen hatte. Sie nahm ihn gleich
bey der Hand, führte ihn in eine Laube, und sank



Um eilf Uhr kam Marianens Bruder zu ihm,
und ſagte: ſeine Schweſter wuͤrde heut allein mit
ihm auf ſeinen Garten gehen; ob er nicht auch hin
kommen wolle? Siegwart nahm dieſen Antrag,
der ein Beweis ſeiner Dankbarkeit, und ſeiner Zu-
neigung zu ihm war, mit dem innigſten Vergnuͤ-
gen an; und ward durch dieſes Zeichen ſeiner Liebe
zu der groͤſten Offenherzigkeit verleitet, ſo daß er
ihm die ganze Geſchichte ſeines eignen, und des
Herzens ſeiner Schweſter erzaͤhlte. Joſeph nahm
daran ſehr vielen Antheil, und ſagte: Er ſey ganz
fuͤr dieſe Liebe, und wuͤnſche nur, es recht bald
beweiſen zu koͤnnen. Von ſeiner Schwaͤgerin, und
ſeinem Bruder, ſagte er ſelbſt, waͤr am meiſten
zu befuͤrchten, weil dieſe ihren Vater ſo ſehr ein-
zunehmen wuͤßte. Doch koͤnnte man vor den
beyden dieſe Liebe ſehr wohl verborgen halten, weil
ſie wenig aus dem Hauſe kaͤmen, und vielleicht
naͤhme gar ſeine Schwaͤgerin bald ganz von der
Welt Abſchied.

Den Nachmittag um vier Uhr gieng Siegwart,
wie er beſtellt war, nach dem Garten. Seine Maria-
ne, ſah ſo zaͤrtlich, und ſo ſchmachtend aus, als
er ſie noch nie geſehen hatte. Sie nahm ihn gleich
bey der Hand, fuͤhrte ihn in eine Laube, und ſank

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[823/0403] Um eilf Uhr kam Marianens Bruder zu ihm, und ſagte: ſeine Schweſter wuͤrde heut allein mit ihm auf ſeinen Garten gehen; ob er nicht auch hin kommen wolle? Siegwart nahm dieſen Antrag, der ein Beweis ſeiner Dankbarkeit, und ſeiner Zu- neigung zu ihm war, mit dem innigſten Vergnuͤ- gen an; und ward durch dieſes Zeichen ſeiner Liebe zu der groͤſten Offenherzigkeit verleitet, ſo daß er ihm die ganze Geſchichte ſeines eignen, und des Herzens ſeiner Schweſter erzaͤhlte. Joſeph nahm daran ſehr vielen Antheil, und ſagte: Er ſey ganz fuͤr dieſe Liebe, und wuͤnſche nur, es recht bald beweiſen zu koͤnnen. Von ſeiner Schwaͤgerin, und ſeinem Bruder, ſagte er ſelbſt, waͤr am meiſten zu befuͤrchten, weil dieſe ihren Vater ſo ſehr ein- zunehmen wuͤßte. Doch koͤnnte man vor den beyden dieſe Liebe ſehr wohl verborgen halten, weil ſie wenig aus dem Hauſe kaͤmen, und vielleicht naͤhme gar ſeine Schwaͤgerin bald ganz von der Welt Abſchied. Den Nachmittag um vier Uhr gieng Siegwart, wie er beſtellt war, nach dem Garten. Seine Maria- ne, ſah ſo zaͤrtlich, und ſo ſchmachtend aus, als er ſie noch nie geſehen hatte. Sie nahm ihn gleich bey der Hand, fuͤhrte ihn in eine Laube, und ſank

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 823. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/403>, abgerufen am 24.04.2024.