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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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was er seinem Vater schreiben wollte? So fest ers
auch beschlossen hatte, so ungern gieng er doch dran,
weil es ihm schwer fiel, seinem Vater ein Ge-
ständniß zu thun, das sein zu zärtliches und ängst-
liches Gefühl lieber nie einer Seele eröffnet hätte.
Daher schob er das Schreiben an seinen Vater
von einem Tag zum andern auf. Oft hatte ers
an einem Abend beschlossen, und unterließ es den
andern Morgen, unter tausend, selbstgemachten,
Entschuldigungen wieder. Wenn er Marianen sah,
so dachte er, nun muß ich schreiben! Er fieng zu
Hause an, war aber nie mit dem, was er ge-
schrieben hatte, zufrieden, strich hundertmal aus,
und zerriß dann das ganze Blatt wieder. Er hat-
te unendlich viele Bedenklichkeiten, daß er seinen
Vater beleidigen, oder seine Gunst verlieren möch-
te, und machte sich selbst tausend Zweifel, die nicht
wirklich waren.

Nach etlich Tagen erhielt er diesen Brief
von Theresen:

Zärtlichstgeliebter Bruder!

Endlich sind alle Wünsche meines Lebens ganz
erfüllt, und ich bin die glücklichste Frau des Besten
aller Sterblichen. Vor zwey Tagen wurden wir



was er ſeinem Vater ſchreiben wollte? So feſt ers
auch beſchloſſen hatte, ſo ungern gieng er doch dran,
weil es ihm ſchwer fiel, ſeinem Vater ein Ge-
ſtaͤndniß zu thun, das ſein zu zaͤrtliches und aͤngſt-
liches Gefuͤhl lieber nie einer Seele eroͤffnet haͤtte.
Daher ſchob er das Schreiben an ſeinen Vater
von einem Tag zum andern auf. Oft hatte ers
an einem Abend beſchloſſen, und unterließ es den
andern Morgen, unter tauſend, ſelbſtgemachten,
Entſchuldigungen wieder. Wenn er Marianen ſah,
ſo dachte er, nun muß ich ſchreiben! Er fieng zu
Hauſe an, war aber nie mit dem, was er ge-
ſchrieben hatte, zufrieden, ſtrich hundertmal aus,
und zerriß dann das ganze Blatt wieder. Er hat-
te unendlich viele Bedenklichkeiten, daß er ſeinen
Vater beleidigen, oder ſeine Gunſt verlieren moͤch-
te, und machte ſich ſelbſt tauſend Zweifel, die nicht
wirklich waren.

Nach etlich Tagen erhielt er dieſen Brief
von Thereſen:

Zaͤrtlichſtgeliebter Bruder!

Endlich ſind alle Wuͤnſche meines Lebens ganz
erfuͤllt, und ich bin die gluͤcklichſte Frau des Beſten
aller Sterblichen. Vor zwey Tagen wurden wir

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[810/0390] was er ſeinem Vater ſchreiben wollte? So feſt ers auch beſchloſſen hatte, ſo ungern gieng er doch dran, weil es ihm ſchwer fiel, ſeinem Vater ein Ge- ſtaͤndniß zu thun, das ſein zu zaͤrtliches und aͤngſt- liches Gefuͤhl lieber nie einer Seele eroͤffnet haͤtte. Daher ſchob er das Schreiben an ſeinen Vater von einem Tag zum andern auf. Oft hatte ers an einem Abend beſchloſſen, und unterließ es den andern Morgen, unter tauſend, ſelbſtgemachten, Entſchuldigungen wieder. Wenn er Marianen ſah, ſo dachte er, nun muß ich ſchreiben! Er fieng zu Hauſe an, war aber nie mit dem, was er ge- ſchrieben hatte, zufrieden, ſtrich hundertmal aus, und zerriß dann das ganze Blatt wieder. Er hat- te unendlich viele Bedenklichkeiten, daß er ſeinen Vater beleidigen, oder ſeine Gunſt verlieren moͤch- te, und machte ſich ſelbſt tauſend Zweifel, die nicht wirklich waren. Nach etlich Tagen erhielt er dieſen Brief von Thereſen: Zaͤrtlichſtgeliebter Bruder! Endlich ſind alle Wuͤnſche meines Lebens ganz erfuͤllt, und ich bin die gluͤcklichſte Frau des Beſten aller Sterblichen. Vor zwey Tagen wurden wir

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 810. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/390>, abgerufen am 25.04.2024.