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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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Siegwarts Seele war durch diesen Brief, und
die darinn enthaltne Hofnung wieder wie neu be-
lebt. Er gieng den andern Tag um halb vier Uhr
in den Garten, wo seine Mariane schon seiner
wartete. Sie empfiengen sich mit einem Entzücken,
als ob sie Jahre lang getrennt gewesen wären.
Mariane sah wieder so heiter aus, wie der Früh-
lingshimmel. Sie pflückte zwo Aurikeln von glei-
cher Farbe; gab die Eine ihm, und steckte die an-
dre an ihre Brust. Jn Gegenwart ihrer Freun-
din war sie bis zum Muthwillen lustig, und hat-
te tausend muntre Einfälle. Siegwart erzählte den
beyden Mädchen Kronhelms und Theresens glück-
liche Geschichte, und meldete seinem Mädchen den
Gruß seiner Schwester. Mariane ward über die-
se Erzählung noch munterer, und sagte, mit einem
Blick auf Siegwart: Standhaftigkeit und treue
Liebe bleibt doch selten unbelohnt. Mit diesen Wor-
ten gab sie ihm ihre Hand, und gieng mit ihm
durch die Johannisbeerhecken einer dunkeln Geiß-
blattlaube zu. Jn ihrem Schatten sank sie an sein
Herz; er neigte sich herab, küßte sie auf ihre Stir-
ne, auf ihre schöne Augen, und auf ihren Mund.
Freudenthränen stunden ihm in den Augen, wann
sie ihren schmachtenden und liebevollen Blick zu



Siegwarts Seele war durch dieſen Brief, und
die darinn enthaltne Hofnung wieder wie neu be-
lebt. Er gieng den andern Tag um halb vier Uhr
in den Garten, wo ſeine Mariane ſchon ſeiner
wartete. Sie empfiengen ſich mit einem Entzuͤcken,
als ob ſie Jahre lang getrennt geweſen waͤren.
Mariane ſah wieder ſo heiter aus, wie der Fruͤh-
lingshimmel. Sie pfluͤckte zwo Aurikeln von glei-
cher Farbe; gab die Eine ihm, und ſteckte die an-
dre an ihre Bruſt. Jn Gegenwart ihrer Freun-
din war ſie bis zum Muthwillen luſtig, und hat-
te tauſend muntre Einfaͤlle. Siegwart erzaͤhlte den
beyden Maͤdchen Kronhelms und Thereſens gluͤck-
liche Geſchichte, und meldete ſeinem Maͤdchen den
Gruß ſeiner Schweſter. Mariane ward uͤber die-
ſe Erzaͤhlung noch munterer, und ſagte, mit einem
Blick auf Siegwart: Standhaftigkeit und treue
Liebe bleibt doch ſelten unbelohnt. Mit dieſen Wor-
ten gab ſie ihm ihre Hand, und gieng mit ihm
durch die Johannisbeerhecken einer dunkeln Geiß-
blattlaube zu. Jn ihrem Schatten ſank ſie an ſein
Herz; er neigte ſich herab, kuͤßte ſie auf ihre Stir-
ne, auf ihre ſchoͤne Augen, und auf ihren Mund.
Freudenthraͤnen ſtunden ihm in den Augen, wann
ſie ihren ſchmachtenden und liebevollen Blick zu

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[806/0386] Siegwarts Seele war durch dieſen Brief, und die darinn enthaltne Hofnung wieder wie neu be- lebt. Er gieng den andern Tag um halb vier Uhr in den Garten, wo ſeine Mariane ſchon ſeiner wartete. Sie empfiengen ſich mit einem Entzuͤcken, als ob ſie Jahre lang getrennt geweſen waͤren. Mariane ſah wieder ſo heiter aus, wie der Fruͤh- lingshimmel. Sie pfluͤckte zwo Aurikeln von glei- cher Farbe; gab die Eine ihm, und ſteckte die an- dre an ihre Bruſt. Jn Gegenwart ihrer Freun- din war ſie bis zum Muthwillen luſtig, und hat- te tauſend muntre Einfaͤlle. Siegwart erzaͤhlte den beyden Maͤdchen Kronhelms und Thereſens gluͤck- liche Geſchichte, und meldete ſeinem Maͤdchen den Gruß ſeiner Schweſter. Mariane ward uͤber die- ſe Erzaͤhlung noch munterer, und ſagte, mit einem Blick auf Siegwart: Standhaftigkeit und treue Liebe bleibt doch ſelten unbelohnt. Mit dieſen Wor- ten gab ſie ihm ihre Hand, und gieng mit ihm durch die Johannisbeerhecken einer dunkeln Geiß- blattlaube zu. Jn ihrem Schatten ſank ſie an ſein Herz; er neigte ſich herab, kuͤßte ſie auf ihre Stir- ne, auf ihre ſchoͤne Augen, und auf ihren Mund. Freudenthraͤnen ſtunden ihm in den Augen, wann ſie ihren ſchmachtenden und liebevollen Blick zu

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 806. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/386>, abgerufen am 28.03.2024.