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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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kenne Theresen; sie hab ihm ausserordentlich gefal-
len, und sein Neffe soll sie haben. Diese Nach-
richt habe sie ganz beruhigt; sie hätte wirklich ih-
rem Bruder geschrieben, und gestern den Brief
nach Jngolstadt geschickt; denn von seiner plötzli-
chen Abreise, und der vorgeblichen Krankheit ihres
Vaters habe sie nicht das geringste gewußt. --

Nun fieng sie aufs neue an, ihren unglücklichen
Bruder zu beklagen, und bitterlich über sein Schick-
sal zu weinen. Endlich fing sie sich mit Siegwart
zu berathschlagen an, was nun zu thun wäre? Er
wollte selbst nach Günzburg reiten, aber sie wider-
rieth es ihm. Wahrscheinlich, sagte sie, werden Sie
meinen Bruder, nach seinem eignen Schreiben,
nicht mehr da antreffen. Sollt er aber noch da
seyn, so können wir durch einen Brief, der ohne-
dieß schneller hinkommt, eben das ausrichten. Wenn
wir ihn versichern können, daß mein Onkel sich sei-
ner ganz gewiß annehmen, und ihm Jhre Schwe-
ster geben will, so muß ihn das zurückhalten! Wir
wollen ihm jetzt augenblicklich schreiben; denn in
einer Stunde geht die Post ab. -- Siegwart, der
sich ohnehin sehr nach seiner Mariane zurücksehnte,
ließ sich diesen Vorschlag gefallen, und gieng in ein
Kabinet, wo er einen sehr beweglichen Brief an



kenne Thereſen; ſie hab ihm auſſerordentlich gefal-
len, und ſein Neffe ſoll ſie haben. Dieſe Nach-
richt habe ſie ganz beruhigt; ſie haͤtte wirklich ih-
rem Bruder geſchrieben, und geſtern den Brief
nach Jngolſtadt geſchickt; denn von ſeiner ploͤtzli-
chen Abreiſe, und der vorgeblichen Krankheit ihres
Vaters habe ſie nicht das geringſte gewußt. —

Nun fieng ſie aufs neue an, ihren ungluͤcklichen
Bruder zu beklagen, und bitterlich uͤber ſein Schick-
ſal zu weinen. Endlich fing ſie ſich mit Siegwart
zu berathſchlagen an, was nun zu thun waͤre? Er
wollte ſelbſt nach Guͤnzburg reiten, aber ſie wider-
rieth es ihm. Wahrſcheinlich, ſagte ſie, werden Sie
meinen Bruder, nach ſeinem eignen Schreiben,
nicht mehr da antreffen. Sollt er aber noch da
ſeyn, ſo koͤnnen wir durch einen Brief, der ohne-
dieß ſchneller hinkommt, eben das ausrichten. Wenn
wir ihn verſichern koͤnnen, daß mein Onkel ſich ſei-
ner ganz gewiß annehmen, und ihm Jhre Schwe-
ſter geben will, ſo muß ihn das zuruͤckhalten! Wir
wollen ihm jetzt augenblicklich ſchreiben; denn in
einer Stunde geht die Poſt ab. — Siegwart, der
ſich ohnehin ſehr nach ſeiner Mariane zuruͤckſehnte,
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[779/0359] kenne Thereſen; ſie hab ihm auſſerordentlich gefal- len, und ſein Neffe ſoll ſie haben. Dieſe Nach- richt habe ſie ganz beruhigt; ſie haͤtte wirklich ih- rem Bruder geſchrieben, und geſtern den Brief nach Jngolſtadt geſchickt; denn von ſeiner ploͤtzli- chen Abreiſe, und der vorgeblichen Krankheit ihres Vaters habe ſie nicht das geringſte gewußt. — Nun fieng ſie aufs neue an, ihren ungluͤcklichen Bruder zu beklagen, und bitterlich uͤber ſein Schick- ſal zu weinen. Endlich fing ſie ſich mit Siegwart zu berathſchlagen an, was nun zu thun waͤre? Er wollte ſelbſt nach Guͤnzburg reiten, aber ſie wider- rieth es ihm. Wahrſcheinlich, ſagte ſie, werden Sie meinen Bruder, nach ſeinem eignen Schreiben, nicht mehr da antreffen. Sollt er aber noch da ſeyn, ſo koͤnnen wir durch einen Brief, der ohne- dieß ſchneller hinkommt, eben das ausrichten. Wenn wir ihn verſichern koͤnnen, daß mein Onkel ſich ſei- ner ganz gewiß annehmen, und ihm Jhre Schwe- ſter geben will, ſo muß ihn das zuruͤckhalten! Wir wollen ihm jetzt augenblicklich ſchreiben; denn in einer Stunde geht die Poſt ab. — Siegwart, der ſich ohnehin ſehr nach ſeiner Mariane zuruͤckſehnte, ließ ſich dieſen Vorſchlag gefallen, und gieng in ein Kabinet, wo er einen ſehr beweglichen Brief an

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 779. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/359>, abgerufen am 25.04.2024.