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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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Zehn Tage lang wartete er mit der grösten
Sehnsucht, aber nur vergeblich, auf neue Nach-
richten. Endlich kam an einem Mittewochen, wel-
ches nicht der gewöhnliche Posttag war, folgen-
der Brief:


Liebster Bruder!

Seit drey Tagen bin ich hier, in der schrecklich-
sten Verfassung, die du dir denken kannst. Alles,
alles ist verlohren! Meine Ruhe, meine Hoffnung,
meine Therese, alles! O Bruder, es ist aus mit
mir! Zwey Tage war ich bey meinem Vater, da
giengs an. Seine Krankheit war nur ein Vorge-
ben, um mich her zu locken. Eines Abends war
ich allein bey ihm auf dem Zimmer. Wie stehts
mit deinem Menschen? sagte er; hängst du ihr noch
an? Jch weiß nicht, ob sie die Jungfer Siegwart
meynen? sagte ich. Jch habe noch alle Ursache,
sie hochzuschätzen. -- Was? Canaille! rief er, und
das wagst du mir ins Gesicht zu sagen? Daß dich
alle Teufel holen! Jch zertrete dich, du Ra-
benaas! -- Mit diesen Worten kam er auf mich zu,
packte mich bey der Kehle fest, und würde mich er-
würgt haben, wenn ich mich nicht vorgesehn, und



Zehn Tage lang wartete er mit der groͤſten
Sehnſucht, aber nur vergeblich, auf neue Nach-
richten. Endlich kam an einem Mittewochen, wel-
ches nicht der gewoͤhnliche Poſttag war, folgen-
der Brief:


Liebſter Bruder!

Seit drey Tagen bin ich hier, in der ſchrecklich-
ſten Verfaſſung, die du dir denken kannſt. Alles,
alles iſt verlohren! Meine Ruhe, meine Hoffnung,
meine Thereſe, alles! O Bruder, es iſt aus mit
mir! Zwey Tage war ich bey meinem Vater, da
giengs an. Seine Krankheit war nur ein Vorge-
ben, um mich her zu locken. Eines Abends war
ich allein bey ihm auf dem Zimmer. Wie ſtehts
mit deinem Menſchen? ſagte er; haͤngſt du ihr noch
an? Jch weiß nicht, ob ſie die Jungfer Siegwart
meynen? ſagte ich. Jch habe noch alle Urſache,
ſie hochzuſchaͤtzen. — Was? Canaille! rief er, und
das wagſt du mir ins Geſicht zu ſagen? Daß dich
alle Teufel holen! Jch zertrete dich, du Ra-
benaas! — Mit dieſen Worten kam er auf mich zu,
packte mich bey der Kehle feſt, und wuͤrde mich er-
wuͤrgt haben, wenn ich mich nicht vorgeſehn, und

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[766/0346] Zehn Tage lang wartete er mit der groͤſten Sehnſucht, aber nur vergeblich, auf neue Nach- richten. Endlich kam an einem Mittewochen, wel- ches nicht der gewoͤhnliche Poſttag war, folgen- der Brief: Guͤnzburg den 21. May. Liebſter Bruder! Seit drey Tagen bin ich hier, in der ſchrecklich- ſten Verfaſſung, die du dir denken kannſt. Alles, alles iſt verlohren! Meine Ruhe, meine Hoffnung, meine Thereſe, alles! O Bruder, es iſt aus mit mir! Zwey Tage war ich bey meinem Vater, da giengs an. Seine Krankheit war nur ein Vorge- ben, um mich her zu locken. Eines Abends war ich allein bey ihm auf dem Zimmer. Wie ſtehts mit deinem Menſchen? ſagte er; haͤngſt du ihr noch an? Jch weiß nicht, ob ſie die Jungfer Siegwart meynen? ſagte ich. Jch habe noch alle Urſache, ſie hochzuſchaͤtzen. — Was? Canaille! rief er, und das wagſt du mir ins Geſicht zu ſagen? Daß dich alle Teufel holen! Jch zertrete dich, du Ra- benaas! — Mit dieſen Worten kam er auf mich zu, packte mich bey der Kehle feſt, und wuͤrde mich er- wuͤrgt haben, wenn ich mich nicht vorgeſehn, und

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 766. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/346>, abgerufen am 18.04.2024.